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"Der verstörte Eros" von Dieter Wellershoff weckt das Begehren nach Literatur

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein deutscher Schriftsteller, der sich im fortgeschrittenen Alter dem Thema Eros zuwendet; ein regional geprägter Erzähler, dessen Romane aus der Provinz seit Jahrzehnten die Geschichte der Bundesrepublik dokumentieren; ein ausgewiesener Germanist, dessen Essays literarische Bildung mit Begeisterung verbinden - das liest sich wie der Steckbrief Martin Walsers. Dass es auch der des zwei Jahre älteren Dieter Wellershoff ist, mag überraschen, zu dominant waren Walsers Freude an der Provokation und eine Literaturkritik, die den süddeutschen Walser und eben nicht seinen westdeutsch-rheinischen Kollegen Wellershoff protegierte - durch Hymnen und Verrisse.

Im vergangenen Jahr endlich hat Wellershoff mit seinem Roman "Der Liebeswunsch" errungen, was Walser schon lange zuteil wird: Popularität und die Anerkennung von Marcel Reich-Ranicki. Im Windschatten dieses späten Erfolges erscheint jetzt der Essayband "Der verstörte Eros"; der Autor selbst versteht ihn - wohl auch mit Blick auf die Gesetze des Marktes - als Anschlussprojekt zum Roman.

Die "Literatur des Begehrens", die auf gut 300 Seiten vorgestellt wird, reicht von Goethes "Werther" bis zu Jelineks "Klavierspielerin", von einem männlichen Verlangen, das ein unerreichbares weibliches Objekt erwählt, weil es seine prinzipielle Unerfüllbarkeit will, bis zum aussichtslosen Begehren einer Frau, die von Sexualität nicht Erlösung im Orgasmus, sondern Erweckung im Schmerz ersehnt. Zwischen dem empfindsamen Briefroman des 18. und dem masochistischen Sexualroman des späten 20. Jahrhunderts liegen der Verführungs-, der Aufstiegs-, Desillusionierungs-, Ehebruchs- und der Libertinage-Roman. Es sind jene Erzählgenres, die ihre poetische und lebensgeschichtliche Existenzberechtigung aus der erotischen 'Verstörung' ableiten, aus dem Verfehlen einer erfüllten Sexualität. Dass indes erst ihre Verstörung aus den unbedeutenden Existenzen literarische Helden macht, deren Verlangen in seiner Unerlöstheit zu berühren vermag, führen Wellershoffs Essays vor: Goethe, Laclos, Schlegel, Stendhal, Balzac, Flaubert, Tolstoi, Fontane, Proust, Borchardt, Zola, Th. Mann, Lawrence, Miller, Bataille, Nabokov, Joyce, Updike, Houellebecq, Brodkey, Jelinek und Ellis interessieren nicht nur als Schöpfer ihrer Werke, sondern auch als Helden ihrer Vita; die literarisch so wirkmächtig dem Eros huldigen, scheitern lebensgeschichtlich am Sexus. Das klingt kurzschlüssiger, als Wellershoff es zelebriert, und indiskreter, als der Leser es schließlich empfindet. Denn das Verhältnis von nicht-gelebter, ersehnter, versäumter, gefürchteter, gemiedener, misslingender Sexualität zu literarischer Produktivität ist das untergründige, eigentliche Thema dieser Erkundungen. Sie sind auch der Versuch einer (Selbst-)Verständigung darüber, wie sich das Phantasma des Begehrens zur Realität der Sexualität verhält, und über die - viel intimere - Frage, ob erfülltes Begehren und Autorschaft miteinander zu vermitteln sind.

Überlagert und fast verborgen werden die Reflexionen von literarhistorischen Anekdoten, Spekulationen und pikanten "Stellen", die, im Laufe eines Lebens aufgelesen und hier nun mitgeteilt, den Voyeur im Leser ansprechen. Dessen Erwartungen werden nicht enttäuscht. Im Unterschied zu anderen Autoren, die das lüsterne gemeine Lesevolk locken, um dann allenfalls ein Fachpublikum zu befriedigen, das alle Stufen literarästhetischer Sublimierung erklommen hat, schätzt Wellershoff den Erotomanen nicht geringer als den Bibliophilen. Beiden bietet er ausführliche Passagen hocherotischer Literatur, (literatur-)verständig und (lebens-)klug kommentiert, nie peinlich, nie pedantisch, nie prüde.

Dennoch ist das beifällige Nicken des Lesers gerade im ersten Teil des Buches ein wenig müde, handelt es sich bei den Selbstzeugnissen, Dokumenten und Spekulationen über erotische Neigungen und sexuelle Praktiken von Autoren, deren Liebes- oder Sexualitätsromane Skandal machten, um weithin Bekanntes: Goethes vorgeblicher psycho-sexueller Defekt, die Ejaculatio praecox, gilt, von Kurt R. Eissler zu einem Schlüssel seiner psychoanalytischen Studie gemacht, seitdem als Erklärung für Goethes widersprüchliche Verhältnisse zu intellektuell ebenbürtigen Frauen auf der einen und einfachen, sexuell attrahierenden Mädchen auf der anderen Seite, für seine "Schwester/Frau"-Identifikation sowie für das 'eigentliche' Italienerlebnis, das für den bis dahin Unerfahrenen nicht in der Kunst-, sondern in der Koituserfahrung bestanden habe. Wellershoff behandelt Eisslers reichlich spekulative Thesen als fraglose Tatsachen. Er holt sie aus dem Abseits des Mediziner-Lateins in das Diesseits der Alltagssprache und kontrastiert handgreifliche Realität durchaus effektvoll mit Goethes Poesie der Entsagung. Das ist, egal ob wahr, gut erzählt. Auch Tolstois späte Sexualitätsfeindlichkeit, präsentiert als Psychogramm eines Renegaten in eroticis, ist nicht wirklich informativ, macht aber Eindruck. In ähnlicher Weise werden Prousts und Th. Manns ästhetisch verschleiernder und moralisch unaufrichtiger Umgang mit Homosexualität erläutert, und wieder fallen die einschlägigen Stichworte, fehlen nicht die Aussprüche von Zeitgenossen und die Urteile der Nachwelt. Das hat über weite Passagen den Charakter einer Oralhistory der deutschen Literaturgeschichte und sozialisiert kommende Generationen als Lesegemeinschaften nach dem Muster anekdotisch-tradierter Familiengeschichte. Deren Charme liegt bekanntlich auch nicht im Neuigkeitswert des Erzählten, sondern im kunstvollen Ritual des wiederholten Erzählens, das dem Zuhörer ein wohliges Gefühl des Wiedererkennens schenkt.

Wirklich spannend schreibt Wellershoff, wo er den Ballast germanistischer Bildung und die wenig sinnlichen Zeugnisse sublimierten Begehrens hinter sich lassen kann: Die Kapitel über D. H. Lawrence und Henry Miller beschreiben Sexualität aus männlicher wie aus weiblicher Perspektive als eine elementare Erfahrung körperlicher Realität, die sich im Akt der Lektüre ebenso körperlich vermittelt - eine Wirkung, die primär die Textbeispiele erzielen, an der Wellershoff aber nicht nur durch Auswahl und Komposition beteiligt ist. Denn ähnlich schwer wie sich über Witze witzig schreiben lässt, ist Erotisches auf erotische oder zumindest nicht lusttötende Weise zu kommentieren. Wellershoff gelingt es. Bravourös meistert er die heiklen Übergänge zwischen Zitat und Erläuterung, und taktvoll vermeidet er es, den animiert Lesenden mehr zu frustrieren als der Lektüre förderlich.

Dennoch enden die Essays "Zur Literatur des Begehrens" mit einer Enttäuschung: Die "Glückssucher und Verlierer" der Jetztzeit, wie Wellershoff die literarischen und lebensweltlichen Erscheinungen der 90er Jahre nennt, handelt er auf insgesamt 14 Seiten ab, von denen elf auf Houellebecq und nur je knapp eine Seite auf Jelinek und Ellis entfallen - das entspricht etwa der Länge einer einzigen Abschweifung im Goethe-Kapitel.

Diese Sprachlosigkeit, die wohl als Ausdruck fundamentaler Ratlosigkeit verstanden werden muss, ist der einzige Hinweis darauf, dass der, der hier über Sexualität und Begehren schreibt, an deren aktuellen Verstörungen scheitert - vielleicht weil er sich einer anderen, älteren und erfüllteren Lebenswirklichkeit zugehörig fühlt. Dann wäre das Scheitern ein letztes schlagendes Argument für das Gelingen eines Projektes, zu dem man Dieter Wellershoff gratulieren möchte.

Titelbild

Dieter Wellershoff: Der verstörte Eros. Zur Literatur des Begehrens.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001.
314 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3462030256

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