Über uns selbst schweigen wir

Manfred Kuehns neue Kant-Biographie

Von Silke WellerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Silke Weller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immanuel Kant litt nicht an Selbstüberschätzung, als er seine 1781 in der "Kritik der reinen Vernunft" dargelegte Erkenntnistheorie mit der Lehre des Kopernikus verglich. Seine Annahme, "die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntniß richten", sollte die Philosophie tatsächlich revolutionieren.

Noch heute gleicht Kants sogenannte Transzendentalphilosophie, die nicht länger die Beschaffenheit der Welt, sondern die des menschlichen Erkenntnisvermögens fixiert, einem Nadelöhr, das alle ernst zu nehmenden philosophischen Reflexionen zu durchlaufen haben.

Die internationale Literatur zu Kants Œuvre füllt dementsprechend ganze Bibliotheken. Erstaunlicherweise aber suchte man darin bisher vergeblich nach einer befriedigenden Biographie. Als Standardbiographie wurde bislang Karl Vorländers Lebensbeschreibung von 1924 gehandelt. Zwar umfangreich in der Darstellung ist sie längst nicht mehr auf dem aktuellen Stand der Forschung. Kein Wunder, mag man sich angesichts dieser Lage denken: Bei einem Mann, dessen Leben nichts anderes als sein Werk zu sein scheint, ist das Maximum an Lebensbeschreibung wohl eine gute Werkbiographie, also die chronologische Rekapitulation der Kantischen Schriften. Außerhalb dieses Schaffens mag sein Leben nicht mehr als einige sterile Fakten und den Stoff für wissenschaftlich anspruchslose Anekdoten aus dem Leben eines verschrobenen Junggesellen aus der nordöstlichen Ecke Preußens abgegeben haben.

Also: Philosophie oder nette Geschichten, Werk oder Leben - tertium non datur. Oder doch?

Eine Neuerscheinung aus Amerika verwirft nun eben diese Dichotomie. Auf ungezwungene Art und Weise arrangiert der Deutsch-Kanadier Manfred Kuehn Kants Leben und Werk als ein in wechselseitiger Abhängigkeit stehendes Ganzes, so dass ohne Übertreibung von einer philosophischen Biographie gesprochen werden kann. Auf etwa vierhundert Seiten, ergänzt durch einen hundertseitigen Anmerkungsapparat - und damit ein eigenständiger Beitrag zur aktuellen Forschung -, zeigt Kuehn anschaulich, dass weder Kant auf einen abgehobenen Gelehrten zu reduzieren ist, noch seine Schriften in akademische Mauern verbannt zu werden verdienen. Eine der Pointen dieser Biographie besteht gerade darin, dass Kants Hauptwerk, besagte "Kritik der reinen Vernunft", sich weder der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Fachphilosophen verdankt, noch im einsamen Gehäuse des Philosophen entstand, sondern unter kritischer Anteilnahme von Freunden Kants zustande kam - zum großen Teil Nicht-Akademikern.

Kuehns Schlüssel zu Leben und Werk des wohl bedeutendsten Philosophen der Neuzeit schließt denkbar einfach: Kants Auffassung vom Gang der Philosophie spiegelt sich in der intellektuellen Entwicklung seines Lebens. Kants Einteilung, ausgehend vom Dogmatismus über den Skeptizismus hin zum (transzendentalen) Kritizismus, erweist sich als autobiographisch abbildbar. In seinen philosophischen Anfängen noch in der traditionellen Schulphilosophie zu Hause, findet er zunächst im Skeptizismus einen vorübergehenden 'Ruheplatz', bevor er schließlich sein eigenes kritisches Gebäude zu errichten vermag. Kuehns Konzentration gilt vor allem der spannenden und spannungsreichen Übergangsphase: ohne selbst festen Boden unter den Füßen zu haben, ringt Kant mit den skeptischen Positionen, deren möglichem Verständnis und ihrer Überwindung. Seinen geistigen Mit- und Gegenspieler dieses Lebensabschnitts findet er dabei bekanntlich in David Hume, eben dem Mann, der Kants eigener Aussage zufolge allererst "seinen dogmatischen Schlummer unterbrach". Ohne sich der eingängigen und populären, aber verkürzenden Klassifizierung in Empirismus contra Rationalismus zu bedienen, schildert Kuehn ausführlich deren imaginäre Auseinandersetzung und erreicht auf diese Art einen hohen Grad an Plastizität der philosophischen Problemstellungen.

So wenig Kant seine philosophischen Vorfahren auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie beerben konnte bzw. wollte, so wenig war ihm dies in moralphilosophischer Hinsicht möglich. Er hielt zwar lange an Christian Wolffs Vermächtnis der moralischen Vollkommenheit fest, doch nicht weniger bedeutete ihm vorübergehend die Moral-sense-Philosophie Francis Hutchesons. Auch hier galt es, vorgefertigte Theorien zu vermeiden und skeptisch zu befragen, um nur auf sicheren Grund zu bauen. 1785 schließlich konnte Kant mit seiner "Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten" öffentlich Richtfest feiern. Der "gute Wille", der allein "ohne Einschränkung für gut könne gehalten werden", war unter Dach und Fach gebracht und durch den 'Kategorischen Imperativ' abgesichert. Die Stärke der Kuehnschen Darstellung liegt auch hier in der Profilierung des genuin Kantischen Gedankenguts, vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit seinen englischen, französischen und deutschen Zeitgenossen. Klar wird: Kant verstehen heißt nicht, einen isolierten Gelehrten in Königsberg zu verstehen, sondern einen Repräsentanten europäischer Aufklärung.

Der globale Blickwinkel lässt Kuehn gleichwohl nicht blind für die Einwirkungen aus Kants näherem Umfeld werden: Manchmal sei es geradezu schockierend zu beobachten, wie sehr Kants intellektuelle Entwicklung durch äußere Anstöße beeinflusst worden sei. Die philosophischen Preisfragen der Berliner Akademie hätten den frühen philosophischen Beschäftigungen Kants nicht selten die Richtung vorgegeben. Teile seiner späteren Philosophie wiederum seien nur als Reflex auf den sogenannten Pantheismusstreit zu verstehen, der sich zwischen Moses Mendelssohn und Friedrich Heinrich Jacobi an der Frage entzündet hatte, ob Gotthold Ephraim Lessing Spinozist und somit im damaligen Verständnis Atheist gewesen sei.

Subtiler im Vergleich zu derart äußeren Verbindungsmarken gestaltet sich die von Kuhn aufgezeigte Parallele zwischen Kants eigenem Charakter und seinen theoretischen Charakteraussagen innerhalb der Anthropologie und Moralphilosophie. Hier beginnt freilich in verstärktem Maße die Interpretation. Doch selbst wenn man dieser Synchronisation nicht vorbehaltlos zustimmen sollte, eröffnet sie doch eine mögliche Perspektive auf Kants Leben und Werk, die nicht zuletzt erzähltechnisch gelungen ist.

Im Detail verzichtet der Verfasser bei seiner Darstellung von Kants Persönlichkeit nicht auf die eine oder andere Anekdote, was durchaus gut ist. Denn in ausgewählter Form bereiten sie dem Leser doch oft rechtes Vergnügen und an der richtigen Stelle platziert, zeigen sie in übertriebener Form Charakteristisches, ohne dabei schon der Klischeehaftigkeit Vorschub zu leisten. Eine der wohl schönsten Episoden, die Kuehn von Jachmann, einem der ersten Biographen Kants aufnimmt, veranschaulicht Kants vertrautes Verhältnis zu seinem Freund Joseph Green: "Kant ging jeden Nachmittag hin, fand Green in einem Lehnstuhle schlafen, setzte sich neben ihn, hing seinen Gedanken nach und schlief auch ein; dann kam gewöhnlich Bankdirektor Ruffmann und tat ein gleiches, bis endlich Motherby [scil. Greens Geschäftspartner] zu einer bestimmten Zeit ins Zimmer trat und die Gesellschaft weckte, die sich dann bis sieben Uhr mit den interessantesten Gesprächen unterhielt."

Dass Kant und Green, Letzterer von Beruf Kaufmann, nicht den Hauptteil ihrer gemeinsamen Zeit verschlafen haben, verrät ein Blick in die "Kritik der reinen Vernunft". Kants dortiger Stil, der etliche kaufmännische Wendungen aufweist, verweist auf einen regen philosophischen Austausch der beiden. Greens Einfluss auf Kant könne kaum überschätzt werden. Sein Tod kennzeichne eine deutliche Zäsur nicht nur in Kants Leben, sondern auch in seinen Schriften: Der Stil wird deutlich komplizierter.

Neben engen Freundschaften pflegte Kant zeit seines Lebens einen großen, wenngleich im Laufe der Jahre wechselnden Bekanntenkreis. Wer sich mit Kants Leben beschäftigt, weiß, von welch tragender Bedeutung dieser Umstand ist. Denn Kant war kein Freund der Introspektion. Er hinterließ kein Tagebuch und geizte auch in seinen Briefen mit autobiographischen Notizen. Das "Beobachten seiner selbst", so warnte er seine Studenten in einer seiner Anthropologievorlesungen, könne "leichtlich zu Schwärmerei und Wahnsinn führen". Will man also etwas über die Person des in seinen Schriften so beredten Denkers erfahren, ist man in erster Linie auf sein Umfeld angewiesen. Kuehn befragt dieses in umfassendem Sinn. Der Leser gewinnt den Eindruck, dieser Kant-Biograph hätte im Anschluss an Kants Lebensbeschreibung auch das Leben von Kants Zeit- und Tischgenossen darstellen können, egal ob es sich um seinen Lehrer Carl Heinrich Rappolt handelt, der Kant für die Schriften Popes begeistern konnte, um seine ambitionierten Schüler Marcus Herz und Johann Gottfried Herder, um die gräfliche Familie der Keyserlingks, deren Hauslehrer und Gast Kant war, oder um seinen Buchhändler und Hauswirt Johann Jacob Kanter - um hier nur einige wenige herauszugreifen.

Im Spiegel des Königsberger Umfeldes präsentiert sich Kant nicht nur als Gelehrter, Schriftsteller und Denker, sondern im Wesentlichen als eleganter, in bescheidenem Umfang sogar modebewusster Mann. Zeit seines Lebens Junggeselle, wenngleich nicht aus Passion, richtet er sich in der Farbzusammenstellung seiner Kleider nach den Farben der Blumen, denn: "die Natur bringe nichts hervor, was dem Auge nicht schmeichle". In seiner zu einem braunen Mantel getragenen gelben Weste war Kant dann auch ein gern und oft gesehener Gast verschiedener Königsberger Gesellschaften. Entgegen einer Karikatur Heinrich Heines, der Kant ein "mechanisch geordnetes, fast abstraktes Hagestolzenleben" unterschob und dessen Leidenschaftlichkeit im alltäglichen Verrichten der Dinge mit der Leidenschaft der Uhr der Königsberger Kathedrale verglich, mag sich Kant also gerade durch seinen Hang zur Geselligkeit von seinen Kollegen und deren im 18. Jahrhundert tatsächlich eher geregelten Gelehrtenleben unterschieden haben.

Als Repräsentant gelebter Aufklärung zeigt sich Kant nicht nur als Theaterbesucher und zeitweiliger Teilnehmer eines literarischen Zirkels, sondern auch in seinem Engagement für eine liberalere Erziehung. Selbst Schüler einer durch religiösen Zwang geprägten pietistischen Lehranstalt, warb Kant eingedenk dieser "Jugendsklaverei" öffentlich für die pädagogischen Reformbemühungen Johann Basedows und dessen in Dessau gegründete Bildungsanstalt, das Philanthropinum. Kuehn zeigt in der Beschreibung des pietistischen Netzwerks und dessen lokalen Ausprägungen, wie weit sich Kant auch in jeder anderen Hinsicht vom religiösen Erbe seiner pietistischen Eltern entfernt hat. Sein diesbezügliches Gesamturteil fällt eindeutig aus: "If pietism had any influence on Kant at all, then it was a negative one." (Wenn überhaupt von einem pietistischen Einfluss auf Kant gesprochen werden kann, dann von einem negativen.)

Universitätspolitisch offenbart sich Kant als Stratege, der seine Philosophie durch die Unterstützung ihm gleich Gesinnter zu befördern wusste. Auf die Verbreitung und Verteidigung seiner Schriften - sei es in Rezensionen oder Aufsätzen - verpflichtete er sowohl Freunde als auch Schüler. Carl Leonhard Reinhold beispielsweise betrieb dieses Geschäft mit seinen "Briefe[n] über die Kantische Philosophie" von 1790 derart professionell, dass es vorübergehend üblich wurde, von einer "Kant-Reinholdischen-Philosophie" zu sprechen.

Aus zahlreichen, umsichtig zusammengetragenen Mosaiksteinen wie der "Kant-Reinholdschen-Philosophie", der Unterstützung Basedows oder der Zusammenarbeit mit Green fügt sich im Laufe von Kuehns Darstellung ein detailliertes Bild des Königsberger Denkers zusammen, das ihn zwar immer noch in erster Linie als großen Kopf erscheinen lässt - durchaus aber eben als Kopf voller Leben.

Kant, der allem Anschein nach englische Literatur nur in deutscher oder lateinischer Übersetzung lesen konnte, würde sich wahrscheinlich freuen, wenn die Darstellung der eigenen Vita auch in der eigenen Sprache zu lesen wäre. Oder aber er würde sich schon jetzt ärgern, dass überhaupt über ihn gesprochen wird. Schließlich hielt er sich mit allem, was seine Person betraf, stets bedeckt und folgte darin konsequent dem Motto seiner "Kritik der reinen Vernunft": "De nobis ipsis silemus." Über uns selbst schweigen wir.

Titelbild

Manfred Kuehn: Kant: a Biography.
Cambridge University Press, Cambridge 2001.
566 Seiten, 42,78 EUR.
ISBN-10: 0521497043

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