Goethe als alter Sack

Bizarres und Behämmertes aus 250 Jahren deutschen Goethetums

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Angeblich im Namen der Humanität haben Generationen von Literaturwissenschaftlern und Goethe-Enthusiasten eine Geistlosigkeit nach der anderen zu Papier gebracht. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Goethe-Idolatrie ihre Stumpf- und Stilblüten besonders üppig treiben lassen. Da gibt es etwa den traurigen Fall des Goethe-Mystikers Heinz Kindermann, der 1938 unter Berufung auf die Humanität Goethes das Weltbild der Nationalsozialisten stützen half: "Vom genialischen Stürmer und Dränger, vom trotzigen Sänger des prometheischen Selbstgenusses hat Goethe sich durchgerungen zu einem willenhaft-organischen Bild der typisch germanischen Haltung, vor der Persönlichkeit und Gemeinschaft keine Gegensätze mehr sein dürfen, soll die Nation nicht schlimmeren Gefahren ausgesetzt werden." Derselbe Kindermann lehrte die Erwachsenen das Fürchten, als er 1952 sein Standardwerk "Das Goethebild im XX. Jahrhundert" vorlegte: Goethe sei, schrieb er dort mit Blick auf die katastrophalen Auswirkungen der Nazi-Herrschaft, "ein höchst lebendiges Ferment unserer Umschichtungen (sic!). Er greift über zweihundert Jahre hinweg überaus lebendig ein in unser neues Werden. Daß aber eine ganze Welt dabei an ihm teilhat, daß sie alle, die vom Osten und die vom Westen, jeder in seiner Weise, an einem lebendigen Goethe und an seine wirksame Strahlungskraft glauben - ist diese Erkenntnis des neuen Goethebildes nicht ein gewaltiger Trost, ja vielleicht sogar eine Verheißung in dieser Epoche des Weltmißtrauens und der Zerspaltenheit."

Ein gewaltiger Trost ist es uns, daß - bis auf Botho Strauß - kein renommierter Autor mehr derart leeres Pathos in die Welt setzen darf, ohne sogleich verlacht zu werden. Schon lang hätte es die Goethe-Philologie verdient, mitsamt ihrer barbarischen Metaphorik einer eingehenden Kritik unterzogen zu werden. 1932 forderte José Ortega y Gasset von "Deutschland" ein "gutes Buch über Goethe." Inzwischen müßte die Forderung nach einem guten Buch über die Goethe-Philologie nachgeschoben werden. Ein Buch, das exemplarisch zeigte, wie es den verschiedenen Regimen und Ideologien immer wieder gelungen ist, den Klassiker für sich zu reklamieren.

Oliver Schmitt, Chefredakteur der Satirezeitschrift "Titanic", und Jürgen Jonas, Publizist und Goethe-Archivar aus Nehren, haben "Bizarres und Behämmertes" aus circa 150 Jahren Goethe-Forschung zusammengetragen. Ihr Buch erinnert an eine Zeit, als die Forscher noch Bärte trugen, weil jede Rasur sie Zeit und den "Anfang eines Aufsätzchens" gekostet hätte. Zu den Bartträgern, die hier vorgeführt werden, gehört Karl Grün, der 1846 ein Buch "Über Goethe vom menschlichen Standpunkt" verbrochen hat, gehört Heinricht Düntzer, der nicht nur Goethes Leben in einer "unanständig dicken Biographie" darstellte, sondern auch sein eigenes Leben "als Ausleger" (Leipzig 1899) beschrieb, ein "erschütternde[s] Kompendium lebenslänglich erlittener Anfeindungen", und gehört Walter Ulbricht, der Goethe und Schiller als "Schrittmacher des Sozialismus" feiern ließ.

Das Buch von Schmitt/Jonas ist lehrreich und es gewinnt den traurigen Rezeptionszeugnissen eine komische Note ab. Es steht in der Tradition der Klassiker-Kritik der sechziger Jahre: Damals begannen Satiriker aus dem Umfeld der Neuen Frankfurter Schule den zum Humanitätsideal hochstilisierten Goethe wieder auf menschliches Maß zurückzuführen; damals auch etablierte sich eine Goethe-kritische Philologie, die - getragen von Neuansätzen wie der Sozialgeschichte der Literatur - nicht nur die tradierten Goethe-Bilder infrage stellte, sondern auch die Forschung und ihre Voraussetzungen insgesamt. Die Blütenlese von Schmitt/Jonas ist Ausdruck des volltönenden Schwulstes einer kaum ernstzunehmenden Wissenschaft, die in immer neuen Wendungen und Windungen unser angebliches "goethesches Erbe" beschwört. Sie kulminiert in einem "Epilogischen Einakter zu Goethes Tod", einer hochkomischen Zusammenstellung aus "Sekundärgoetheliteratur", sowie in einigen herrlichen Goethe-Konterfeis von F. W. Bernstein: "Goethe als alter Sack".