Vorbemerkungen von Thomas Anz

So heftig wie in der Geschichtswissenschaft scheinen in der Literaturwissenschaft die Auseinandersetzungen um die Begriffe "Kultur" und "Kulturwissenschaft" nicht geführt zu werden. Die Vehemenz, mit der Hans-Ulrich Wehler das Konzept der Sozialgeschichte gegen kulturwissenschaftliche Herausforderungen der Psychoanalyse oder der Diskursanalyse eines Michel Foucault verteidigt (siehe dazu die Rezension von Thorsten Benner), hat in den Literaturwissenschaften jedenfalls nicht ihresgleichen gefunden. Die Einsprüche gegen die Erweiterungen zur Kulturwissenschaft kommen dort eher von anderer Seite. Sie gehen vielfach mit Befürchtungen einher, den Literaturwissenschaften könnten ihre eigentlichen Gegenstände abhanden kommen. Solche Vorbehalte hatte man jedoch schon gegenüber den älteren Konzepten einer Sozialgeschichte der Literatur. Daß sie dem kulturwissenschaftlichen Selbstverständnis jüngerer Literaturwissenschaft den Boden bereitet hat, das unter anderem versucht der einleitende Beitrag zu dem Themenschwerpunkt zu zeigen. So hat es auch seinen Sinn, daß unter diesem Schwerpunkt ein neuerer Band aus "Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur" rezensiert wird.

Die Konzepte der Kulturwissenschaft divergieren nicht nur nach wissenschaftlichen Disziplinen, sondern auch nach anderen kulturellen Kontexten, in denen sie betrieben werden. Das ist selbst ein kulturgeschichtliches Phänomen. Deutsche Kulturwissenschaft ist trotz mancher Verwandschaften nicht das gleiche wie Cultural Studies im angelsächsischen Raum. Darauf und auf etliche disiziplinäre Überschneidungen mit dem New Historicism, dem Postkolonialismus und mit den Gender Studies gehen vier weitere Rezensionen ein. Daß es die Psychoanalyse war, von der die heutigen Kulturwissenschaften wichtige Impulse erhalten haben, rechtfertigt die darauf folgende Rubrik: Um theoretische Grundlagen geht es in der Auseinandersetzung mit dem Begriff des Unbewußten in Psychoanalyse und Systemtheorie, um avancierte Praxis psychoanalytischer Kulturwissenschaft in der Rezension zu zwei neueren Schriften von Slovoj Zizek und um Probleme psychoanalytischer Literaturinterpretation in einer Besprechung von Jürgen Mantheys nicht mehr ganz neuem Buch mit dem Titel "Die Unsterblichkeit Achills".

Rezensiert werden weiterhin Bücher, die dem Bereich einer "Medienkulturgeschichte" zuzuordnen sind. Ein Band aus dem medienkulturgeschichtlichen Großprojekt von Werner Faulstich zeigt exemplarisch, mit welchen Unschärfen, aber auch mit welchen Anregungen hier zu rechnen ist. Rezensionen zu Büchern über die Kulturtechnik des Lesens haben hier einen klarer definierten Gegenstandsbereich im Blick.

Der letzte Teil behandelt ganz heterogene Beispiele angewandter Kulturgeschichtsschreibung. EineAufsatzsammlung, die die auf diesem Gebiet einschlägig ausgewiesene Kulturhistorikerin Ute Frevert mit herausgegeben hat, handelt von der Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Aby Warburgs Mitbegründung der Kulturwissenschaft selbst wird zum Gegenstand kulturhistorischer Untersuchungen. Und schließlich läßt sich auch Peter Sloterdijks Großprojekt "Sphären" als Beispiel neuerer Kulturgeschichtsschreibung lesen.

Fünf Beiträge zum Schwerpunkt hat literaturkritik.de sich sozusagen ausgeliehen. Unter der Internetadresse http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de findet sich der Rezensionsteil der "Humanities Sozial- und Kulturgeschichte" (H-Soz-u-Kult), ein Internet-Forum für HistorikerInnen, das vom Institut für Geschichte an der Humboldt Universität Berlin organisiert wird. Wir können das Forum allen unseren Leserinnen und Lesern, die an "Kulturgeschichte" interessiert sind, sehr empfehlen.

Thomas Anz