Ein deutsches Beben

Sloterdijks Visionen und die darauffolgenden Hiebe

Von Thomas SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Sturm

Der Alltag eines Philosophen ist ungefähr so aufregend wie der eines Fliesenlegers oder eines Heizungsmonteurs. In der Regel sitzen Philosophen in ihren Universitäten, ärgern sich dabei ein bisschen über Vorgesetzte oder Kollegen, unterrichten ihre Studenten, denken dann genauer über dieses logische Problem oder jene moralische Frage nach und gehen abends mit Freunden Fussball gucken oder trinken ein (oder zwei oder drei) Pils. Leider ist ihre Arbeit, obwohl im Einzelnen durchaus vernunftförderlich für Wissenschaft und Gesellschaft, kaum für Sensationsmeldungen geeignet. Sie taugt nicht einmal zu einer publikumsfreundlichen Darstellung der Philosophie als einer Folge titanischer intellektueller Debatten über die Wege des Weltgeistes oder die Strassen der Seinsgeschichte. Die tatsächliche Arbeit der Philosophen hat wenig mit den Kämpfen zwischen Hegelianern und Marxisten, Nietzscheanern und Kritischen Theoretikern oder modernen Logozentristen und postmodernen Dekonstruktivisten zu tun. Sie ist überwiegend ruhige Aufbau- und Aufräumarbeit - sozusagen die Fliesenlegerei und Heizungsinstallation für Geist oder Vernunft.

Nun gibt es manche, die das partout gerne weniger armselig hätten. Für sie gibt es glücklicherweise eine Hoffnung auf ein besseres Dasein schon im Diesseits: die Chance auf einen erhebenden Auftritt im deutschen Feuilleton. Nirgendwo sonst lässt es sich so tief schauen, so tragisch über Zeit und Geist denken und dabei auch noch so schön posieren. Peter Sloterdijk zum Beispiel ist in der Tat kaum ein fader philosophischer Fliesenleger oder Heizungsmonteur. Aus seinem Mund stammen so leuchtende Gedankenperlen wie "die (Atom-) Bombe trägt die letzte Hoffnung und Aufgabe der westlichen Philosophie, doch ihr Unterrichtsverfahren erscheint uns noch ungewohnt"; oder auch "Zynismus ist das aufgeklärte falsche Bewusstsein". Der "Spiegel" sieht Sloterdijk darum konsequent als "Visionär". Hat der Denker des Zeitgeistes mit seiner "Kritik der zynischen Vernunft" nicht schon 1983 die "Harald Schmidt Show" vorausgesehen? Von soviel Prävision können sich selbst Fernsehmacher wie Thoma und Kogel noch manches Scheibchen abschneiden; und nur Meckerpötte wie Altbundeskanzler Helmut Schmidt schlagen vor, dass Leute mit Visionen doch dringend mal zum Arzt gehen sollten.

Ein grosser Denker kann freilich auch etwas auf die Rübe bekommen; eigentlich gehört ein bisschen Verruf sogar dazu. Sloterdijk hat auch das jetzt geschafft. In einer kürzlich gehaltenen Rede unter dem Titel "Regeln für den Menschenpark - Ein Antwortschreiben zum Brief über den Humanismus" sieht so mancher Feuilletonist deutliche "Züge faschistischer Rhetorik". Sloterdijk habe angesichts der biotechnologischen Revolution nicht nur eine "Ethik des anthropotechnischen Machtgebrauchs" gefordert - sondern dabei auch "ungeniert von 'Menschenzucht'" gesprochen oder von der Notwendigkeit, "die ungeeigneten Naturen auszukämmen". Zack! Knuff! Ein gestandener Visionär wird solche Schläge schwerlich auf sich sitzen lassen. Bei der Gegenwehr gehört es übrigens zum guten Ton, keinesfalls darauf hinzuweisen, dass es zur Sache selbst - den Chancen und Risiken der neuen biotechnischen Verfahren und der damit verbundenen moralischen Fragen - seit über einem Jahrzehnt ernsthafte Diskussionen gibt. Sachdebatten stören nur, wenn es um den Ruf als Visionär geht. Als Angegriffener lässt man sich besser in monumentaler Denkerpose ablichten, verfasst zwei Briefe an die werten Herren Gegner (stellvertretend für die Journalisten wird angefeindet: Thomas Assheuer; für die Philosophen: Jürgen Habermas) und raune dabei tiefe philosophische Theoreme, etwa: "Die kritische Theorie ist tot". Peng!

Die "Zeit" druckt das Ganze in ihrem Teil "Wissen" ab - neben astronomische, mathematische und zahnmedizinische Beiträge gehört es schliesslich hin. Das Publikum erfährt im weiteren Verlauf der Debatte in den Feuilletons, dass es natürlich bei all dem keinesfalls nur um persönliche Eitelkeiten geht. Vielmehr geht es um eine Grundsatzauseinandersetzung ganzer Hauptrichtungen der Gegenwartsphilosophie. Eine "Schlacht um den Menschen" ("Süddeutsche Zeitung") wird geführt; der demokratische Tugenddiskurs, die Dialektik der Aufklärung, die Heitmann-, Handke- und Walser-Debatten kommen ebenso ins Spiel wie die Beobachtung, dass Habermas als "massgeblicher deutscher Philosoph" geht und dafür Heidegger und Oswald Spengler heimkehren. Auf der "philosophischen Bühne hat über Nacht ein Szenenwechsel stattgefunden", und von all dem werden "die nächsten Jahre geprägt sein". Ein "Deutsches Beben" habe sich ereignet: Wir erleben live die "metaphysische Gründung der Berliner Republik", so die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Krach! Krawumm!

Sloterdijk hat inzwischen behauptet, viele der Feuilletonartikel drückten nur "junge Ahnungslosigkeit" aus. Sie lohnen kaum der Betrachtung. Genialer ist zweifellos seine eigene Argumentation. Die sieht an zentraler Stelle - dem Brief an Habermas - so aus: Im Gefolge der Kritischen Theorie ist eine bestimmte Theorie des demokratischen Dialogs - die Diskurstheorie oder auch Diskursethik - von Habermas und anderen entwickelt worden. Sloterdijk stellt nun heraus, Habermas habe "mit zahlreichen Leuten über mich geredet, niemals mit mir. In unserem argumentierenden Gewerbe ist das bedenklich; bei einem Theoretiker des demokratischen Dialogs ist es unverständlich." Die lichtvolle Überlegung ist also: Die Kritische Theorie hat ins Gras gebissen, weil Habermas sich nicht an die Theorie gehalten hat, die er doch selbst entworfen hat. Er habe eine Rufmordkampagne gegen Sloterdijk begonnen, indem er dessen Text unerlaubt an Feuilletonjournalisten verbreitet und diese mit seinen kritisch-theoretischen Doktrinen infiltriert habe. Er habe damit zweifelsfrei und endgültig das Ideologische seiner Diskurstheorie und sich selbst überhaupt als "Tugenddiktator" entlarvt.

Wichtiger als die etwas fade Überprüfung der Frage, ob Habermas nun tatsächlich eine Kampagne gefahren hat oder nicht, ist hierbei, dass das Publikum begreift, wie revolutionär hier eigentlich argumentiert wird. Sloterdijks Schlussfolgerungen folgen nämlich vollkommen elegant und unwiderstehlich aus den gemachten Voraussetzungen - das allerdings nach einem ganz neuen Prinzip. Man muss sich nämlich nie wieder mit den lästigen Details und Gründen für und wider eine Theorie wie der Diskursethik befassen. Vielmehr gilt: Befolgt jemand eine Idee oder eine Theorie nicht, die er selbst für richtig oder vernünftig hält, so muss die Idee oder die Theorie falsch sein - nicht etwa das Handeln, wie wir Naivlinge bislang meinten. Ein Richter, der im Privatleben gegen seine eigenen Urteilssprüche verstösst, macht sich damit keineswegs rechtlich schuldig. Er beweist vielmehr, wie irrig seine früheren Gerichtsurteile waren. Und künftig ist ein Tempolimit genau dann Ausdruck einer falschen Bewusstseins, wenn die Abgeordneten, die es beschlossen haben, sich selbst nicht daran halten mögen. Der Sinn des Zähneputzens wir sofort als verfehlte Tugenddiktatur offenbart, wenn sich herausstellen sollte, dass Zahnärzte abends ohne Mundhygiene zu Bett gehen. Kommen Sie jetzt nur nicht mit so Sachen wie dem gesunden Menschverstand oder anderem logozentrischen Irrsinn! Das verrät nur, dass Sie zu engstirnig sind und einfach über keinerlei Visionen verfügen.

P.S.: Wahr ist, dass Sloterdijk in dem Brief an Habermas behauptet, er, Sloterdijk, gehöre zum "argumentierenden Gewerbe". Unwahr ist, dass das Gewerbe über seine Innung hat verlauten lassen, es sei erfreut über den Neuzugang und gelobe, Sloterdijk niemals mit lächerlichen Argumenten zu überschütten, wobei als Massstab für lächerliche Argumente Sloterdijks bisherige Veröffentlichungen anzunehmen seien.