Massakrierte Gedanken

Interview mit Wilhelm Genazino über Sehnsucht, Peinlichkeit und Wahnsinn

Von Manfred StuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Stuber

Frage: Neulich sah ich das "Traumschiff" wieder im Fernsehen. Da fiel mir der Satz aus einem Ihrer letzten Essays ein, in dem sie die pathologische Form der Sehnsucht beschreiben. Es gibt viele Menschen, sagen Sie, die ihre Realität komplett austauschen gegen eine eingebildete, ihnen wünschenswerte. Haben Sie nicht auch manchmal den Eindruck, dass heute die pathologische die gebräuchlichste Form der Sehnsucht ist?

Genazino: Natürlich. Ich habe aber in diesem kleinen Essay zugestanden, dass man sich in manchen Fällen auch irren kann. Ich glaube eigentlich auch, dass das pathologisch ist, es kann aber genauso gut sein, dass ein Mensch sich bloß arrangiert hat mit seiner Sehnsucht. Er hat eingesehen, dass er zwar nicht alle Tassen im Schrank hat, wenn er "Traumschiff" guckt, dass es aber überhaupt kein Lebewesen geben kann, das alle Tassen im Schrank hat. Insofern wäre es das Normale, sich pathologisch zu sehnen. Natürlich wäre andererseits das allerheftigste "Aus-der-Welt-hinaus-Fallen" - als das würde ich die Sehnsucht bezeichnen - wiederum ein solches, das aufs allerheftigste in die Welt hineintritt.

Frage: Was soll man davon halten, wenn Wünsche in der Realität nicht mehr zu erfüllen sind?

Genazino: Sicher, sie werden in der Realität nicht erfüllt, aber das bringt sie ja gerade hervor. Es wird das stärkste Gefühl hervorgebracht, dessen Menschen fähig sind. Das wäre sogar das Positive an der pathologischen Sehnsucht. Erinnern Sie sich doch einmal an Menschen, deren Wünsche sich erfüllt haben! Was sind das für Halbschlafexistenzen! Die schlafen sogar noch vor dem Fernseher ein, weil sie nichts mehr zu wünschen übrig haben. Ist das nicht eine Spruchweisheit in unserer Gesellschaft: Das lässt nichts zu wünschen übrig? Da stehen wir auf einem sehr glatten Parkett. Dann ist man ja schon fast tot.

Frage: Was Sie die "Gesamtmerkwürdigkeit" des Lebens nennen, das führt bei Ihren Figuren oft zur sympathisierenden Einfühlung in Außenseiter, Gescheiterte, Verlierer. Kann man schließen, dass Ihnen die heute gängige Erfolgs- und Leistungsmentalität ziemlich unverständlich ist?

Genazino: Die ist mir zutiefst suspekt. In meiner ganzen Lebensgeschichte hat es noch nichts gegeben, was mir derartig suspekt gewesen wäre wie diese uniforme Lebensvorstellung vom Erfolg. Alle wollen gewinnen, alle reich sein, alle fast berühmt. Als wäre man dann auch schon glücklich. Es ist mir rätselhaft, wie eine derartige Gesamtstimmung über die Bevölkerung hat hereinbrechen können. Ich nehme mal an, das Transportband für diese Abartigkeit ist das heutige Fernsehen. Das ist der Illuminator für die schräge Beleuchtung noch der allerhintersten Sehnsuchtsecken, mit denen die Menschen in anderen Zeiten in der Regel allein waren. Es bekommt dem Menschen nicht, wenn seine heftigste Sehnsucht in die Scheinwerfer der Öffentlichkeit gezerrt wird. Es wäre gut für ihn, wenn er mit großen Teilen seines Wunschlebens für sich allein wäre.

Frage: Es ist also das Fernsehen, durch das die pathologische Sehnsucht regelrecht gezüchtet wird?

Genazino: Nicht als messbarer Indikator. Das gab es ja früher auch schon. Aber eben nicht als das Kollektivgefühl schlechthin. Heute wollen schon die Fünfjährigen ein Popstar werden und die Sechzigjährigen haben noch nicht die Idee aufgegeben, ein Popstar werden zu können. Das schlägt derartig durch, in allen Schichten und Ecken der Gesellschaft, dass man manchmal meint, das gesamte Leben spiele sich in einem kollektiven Irrenhaus ab.

Frage: Sie sind ein Fachmann für Komik. Sie haben in Paderborn Vorlesungen über das Komische gehalten und früher mal für die Satirezeitschrift "Pardon" geschrieben. Trotzdem gelten sie auch als Melancholiker.

Genazino: Darauf müsste ich Ihnen eine endlose Antwort geben. Wichtig wäre für den Augenblick, dass man mit dem Spannungsfeld zwischen Melancholie und Komik ganz gut zurande kommt, wenn man aufhört, auf die öffentlichen Unterhalter zu achten, auf das Fernsehen und die Populärkünste. Man muss sich auf den Weg machen, jene Momente im Alltag herauszusuchen, die einen selbst zum Lachen bringen. Man muss sich fragen: Wieso ist das jetzt so amüsant für mich? Und vor allem: Warum ist das so schwer einem anderen mitzuteilen? Der Witz hat immer eine objektive Pointe. Die komische Empfindung hat keine. Man hat in der Regel schon Schwierigkeiten, sie dem Nächsten mitzuteilen, weil man riskiert, dass der sagt: Was soll denn daran bitte komisch sein? Die komische Empfindung im Alltag, das also, was mich subjektiv zum Lachen bringt, ist nicht ohne weiteres kommunizierbar. Da man sie selbst entdeckt hat, ist sie auf einen persönlich zugeschnitten. Daraus ergibt sich auch ein Schnittpunkt mit der biographischen Melancholie, oder sagen wir besser: Langeweile. Die ist ja nun gar nicht so schlimm, sehr oft sind beide, scheinbar kontroverse Empfindungen unmittelbar verknüpft.

Frage: Was wäre denn etwa eine komische Empfindung?

Genazino: Sagen wir mal, ich hätte es aufgegeben, allen meinen Wunschträumen hinterherzurennen. Und ich sehe andere, die sich immer noch abstrampeln, ihre Träume zu erhaschen. Das kann ich komisch finden: Wenn ich merke, dass zwischen den phantastischen Wünschen der Leute und den Anstrengungen, die sie unternehmen, um diese zu verwirklichen, ein gewisser Abgrund klafft. Dieser Abgrund ist im Prinzip komisch. Jeder Abgrund ist komisch.

Frage: Sie haben derzeit unerwarteten Erfolg mit Ihrem Buch "Ein Regenschirm für diesenTag". Sie waren im "Literarischen Quartett", im "Spiegel", im "Focus". Sie werden jetzt ein wenig in der Medienmaschine verwurstet?

Genazino: Das ist schon richtig. Ich muss diesen Erfolg der Gesamtmerkwürdigkeit meines Lebens einordnen. Er verblüfft mich. Ich habe dafür keine Erklärung, außer der gewöhnlichen, dass man mich im "Quartett" besprochen hat. Das "Quartett" hatte ja weniger eine literarische Kompetenz als eine ökonomische. Manchmal lief das möglicherweise parallel, wie vielleicht in meinem Fall. Ich sehe diesem Erfolg mit großer Verwunderung zu. Ich meine, ich habe da nichts dagegen. Ich verkaufe auch gern mal 20.000 Bücher. Das ist mir in meinem Leben noch nicht passiert. Aber es wirkt nicht außerordentlich in meine Existenz hinein. Ich mache alles wie zuvor. Ich will auch weiter so leben.

Frage: Ihre Flaneurfigur drückt sich ständig vor sozialen Rollen und Fesseln. Ist das auch Ihre eigene Position in der Welt?

Genazino: Mit einigen Abstrichen und Umbiegungen, ja. Da ist einiges von mir dabei: dieses Sich-hinaus-winden aus den Vereinnahmungen und Belästigungen durch die Gesellschaft. Bis heute versuche ich, gesellschaftlichen Vergewaltigungen aus dem Wege zu gehen, auch in scheinbar harmlosen Fällen.

Frage: Fällt Ihnen da ein Beispiel ein?

Genazino: Ich bin zum Beispiel Fußballfan. Aber keine zehn Pferde würden mich in ein Stadion bringen. Warum? Weil ich vor dem Aufmarsch dieser Massen, auch vor der Dummheit dieser Massen, große Furcht habe. So sitze ich, unfreiwillig, wie ich gestehen muss, vor der Glotze. Das ist mir immer noch lieber als diese panische Situation in der Meute. Ich war ein einziges Mal im Stadion und froh und glücklich, als ich wieder entkommen war. Ich begreife nicht die Gemütslage von Menschen, denen der Aufmarsch dieser Abertausenden verarbeitbar erscheint.

Frage: In einem Essay verwenden Sie den Begriff "Spätkapitalismus" für unsere Zeit. Muss man das so lesen, dass auch Sie aus der 68er Bewegung kommen?

Genazino: Spätkapitalismus ist eine rein soziologische Formel und meint ein Zeitphänomen, die vorerst letzte Phase des Kapitalismus eben. Ich war von den 68ern nur ganz am Rande affiziert. Wir lebten damals in der Provinz und haben einen antiautoritären Kindergarten mit ins Leben gerufen, weil wir selber ein Kind hatten. Das ist aber schon alles. Ich war damals bereits am Rande, was vermutlich der von mir bevorzugte Platz ist.

Frage: Sie schrieben neulich: Peinlichkeit sei etwas Authentisches und zutiefst Humanes. Steckt in der Peinlichkeit etwa ein Erkenntniswert?

Genazino: Ich weiß nicht, ob ich gleich von Erkenntniswert reden wollte. Aber etwas zutiefst Menschliches steckt durchaus in der Peinlichkeit drin, weil sie die Menschen aus ihren angelernten Rollen wirft. Normalerweise läuft der Verkehr zwischen uns ja über Eingeübtes, Erlerntes. Und plötzlich tauchen da so peinliche Momente auf, es kommen hinter den Masken die Individuen zum Vorschein, die zeigen sich anders, als sie sich zeigen wollen. Peinlichkeit heißt ja auch, dass man sich plötzlich an einer unvorhergesehenen Stelle offenbart. Das haben wir mit unseren sozialen Masken schon völlig verlernt. Man hat seinerzeit von Charaktermasken gesprochen, so weit würde ich nicht gehen. Es sind Sozialmasken, Rollenmasken. Man muss eben eine Nummer spielen, damit man durch den Alltag kommt. Das gelingt den meisten Menschen so gut, dass sie nur noch als Rollen durchs Leben gehen. Und weil auch das ganz gut klappt, vergessen sie völlig, dass darunter noch eine ganz andere menschliche Authentizität steckt. Die ist ja auch schwieriger zu leben als die Maske. Peinlichkeit ist sozusagen, wenn einer plötzlich die Handbremse zieht und alle schauen sich um: Ist da etwa jetzt irgendwas passiert? Das sind Momente, wo die Gardinen zur Seite gezogen werden und das Subjekt erscheint. Im Grunde hätten wir also Anlass, über die Peinlichkeit erfreut zu sein, aber die Menschen antworten mit Scham. Die Scham sagt: Wir werden an einer Stelle veröffentlicht, die nicht zur Veröffentlichung vorgesehen war.

Frage: Ihr Held wird umgetrieben von assoziativen, irrationalen Deutungen und Zusammenhängen in der beobachteten Wirklichkeit. Er hat Angst, wahnsinnig zu werden. Ist Wahnsinn auch eine Art Verweigerungsstrategie?

Genazino: Ja, der Wahnsinn... Der wird ja gar nicht wahnsinnig, der hat bloß die Furcht, er könnte es werden. Warum? Aufgrund seiner gescheiterten beruflichen Sozialisation hat der Protagonist kein Außenprofil, er hat nur ein Innenprofil. Er ist fast ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Dazu neigen Menschen, die von der normalen Kommunikation in Beruf und Alltag abgeschnitten sind, sie werden stark introspektiv bis an die Grenze zum Autismus. Daher kommt die Angst: Wenn das nicht aufhört mit dieser "Verschwindsucht", dann werde ich vielleicht noch verrückt. Es ist die Reaktion eines aus dem sozialen Gleichgewicht gebrachten Subjekts. Wie schon Aristoteles gesagt hat, ist der Mensch ein geselliges Wesen, er soll hinausgehen unter seinesgleichen und soll sich austauschen. Wenn ihm das versagt wird, drohen solche merkwürdigen Pathologien. Lange bevor sie manifest sind, werden sie vom Subjekt mit sich selber kommuniziert: Werde ich jetzt verrückt? Das kann sich vollständig im inneren Gesprächsraum abwickeln. Es muss gar nicht passieren.

Frage: Wäre denn der Wahnsinn bloß negativ zu sehen?

Genazino: Das käme auf die Folgen an. Das Entscheidende ist die soziale Auffälligkeit.Wenn jemand seine Ticks hat und damit weder sich noch andere gefährdet, wenn es ihn nicht an seiner Arbeit hindert, dann soll er sie meinetwegen haben. Dann ist das sein Glück, seine Art der Kommunikation. Gefährlich wird es, wenn er nicht mehr arbeiten kann, wenn er etwa Anfälle von Verfolgungswahn bekommt, dann verliert die Sache ihre Harmlosigkeit.

Frage: Sie sagen, Autoren sollten hie und da ein gescheitertes Werk veröffentlichen, weil auch der Literaturbetrieb zu einer Selbstmystifizierung neigt, innerhalb derer sich alle Beteiligten Perfektion vorspielen. "Kunst heißt Fehlschlägen nachschauen", haben Sie geschrieben.

Genazino: Ich hoffe sehr, dass der eine oder andere Kollege mal den Mut aufbringt, Fehlschläge zu veröffentlichen. Das würde vielleicht zunächst kollidieren mit dem allgemeinen Geschmack, mit der allgemeinen Erwartung. Der Markt will die perfekte Ware. Am Anfang könnte das etwas Verwirrung stiften. Aber die wirklichen Literaturleser würden das goutieren, das glaube ich, weil sie auch den Lustgewinn einstreichen könnten, einen gescheiterten Arbeitsprozess zu studieren, den Einblick ins "Machen" bekämen, in die Frage, warum etwas aufgegeben wurde, warum es sich nicht rundete. Das hätte doch einen hohen Reiz. Zugegeben, ich hatte ja auch noch nicht den Mut, aber ich würde uns alle gern auffordern, mal etwas Weggelegtes herzuzeigen.

Frage: Hat die perfekte Form also auch etwas Künstliches und Unechtes? "Jeder Schriftsteller weiß, was er der Form opfert", schreiben Sie.

Genazino: Sagen wir es mal so: Die verunglückte Mitteilung sagt ja auch etwas. Sie führt immer etwas Unaussprechliches mit sich. Der gut formulierte Satz ist immer auch einer, der etwas Bestimmtes nicht mehr sagt. Die Form ist auch dem Nichtaussprechlichen geschuldet. Es bleibt da etwas auf der Strecke. Bei Hölderlin kann man das Verhältnis des Veröffentlichten zum Unveröffentlichten sehr gut studieren und erstaunliche Entdeckungen machen.

Frage: Der französische Philosoph Alain sagte mal: Jeder Gedanke ist ein Massaker von Eindrücken. Man könnte das fortsetzen und sagen: Jeder Satz ist wiederum ein Massaker von Gedanken.

Genazino: Eine Art Massaker ist da immer im Spiel. Man muss ja, will man sich mitteilen, zum Satz kommen, irgendwann, und alles andere vergessen, was man nicht integrieren kann. Wenn ich überwältigt bin von einem ganz starken Eindruck, dann führt das bei mir doch erst mal zur Stummheit. Nicht zur totalen Stummheit. Ich bringe noch Fragmente zustande, Halbsätze, Brocken, Laute. Wenn ich Schriftsteller bin, dann mache ich da etwas daraus, was eine Form hat. Dafür aber muss ich den unmittelbaren Eindruck opfern, der in der sprachlich ungeformten Verlotterung noch drin war. Der ist dann weg.