Vorbemerkungen und Literaturhinweise

Zeitgleich mit dem Ende der DDR und der alten Bundesrepublik setzte in den deutschen Kulturwissenschaften die Konjunktur des Begriffs "Kulturelles Gedächtnis" ein. 1988 verwendete ihn der Ägyptologe Jan Assmann, der 1992 sein grundlegendes Buch dazu veröffentlichte, als Sammelbegriff für den "Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten", durch deren Pflege jede Gesellschaft ihre Identität stabilisiert. Auf der Basis kollektiv geteilten Wissens über die Vergangenheit kann "eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart" entwickeln. Nicht zuletzt in Kontexten der Suche nach einer neuen deutschen oder auch europäischen Einheit entfaltete der Begriff in den neunziger Jahren seine Attraktivität.

Erstaunlich war dabei allerdings, dass dies schon am Ende jenes Jahrzehnts geschah, in dem die intellektuellen und kulturwissenschaftlichen Debatten ganz im Zeichen "postmoderner" Postulate nach Pluralität und Differenz standen. Wie kaum ein anderer Begriff war der der "Einheit" suspekt geworden oder sogar unter Totalitarismusverdacht geraten. "Wir haben die Sehnsucht nach dem Ganzen und Einen teuer bezahlt", hatte Lyotard Anfang der achtziger Jahre erklärt. Hinter Versuchen ihrer Wiederbelebung stehe "das Raunen des Wunsches, den Terror ein weiteres Mal zu beginnen."

Von der einheits- und identitätsstiftenden Kraft des kulturellen Gedächtnisses begann man Ende der achtziger Jahre erstaunlich ungeniert zu reden. Und die Konjunktur des Begriffs war in der Tat nicht frei von sozial und politisch restaurativen Tendenzen. Doch ließen die mit dem Begriff assoziierten Konzepte den Kulturwissenschaften durchaus Spielräume für ganz unterschiedliche Impulse. Die Schriften von Jan und von Aleida Assmann (drei Bücher von ihr werden in dieser Ausgabe besprochen), die der Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel ("Bilder des kulturellen Gedächtnisses", 1994) oder des Historikers Lutz Niethammer (siehe die Rezension dazu) sind ziemlich heterogen. Wenigstens zum Teil entstanden sie auch als Reaktion auf eine historische Konstellation, in der die persönliche Erinnerung überlebender Zeugen der Katastrophen und Massenmorde dieses Jahrhunderts zu verschwinden droht (vgl. dazu auch den Schwerpunkt "Erinnerung an den Holocaust" in literaturkritik.de Nr. 6/ Juni 1999) und in der mit dem "Ende der Nachkriegszeit" und mit dem Ende des Jahrhunderts von vielen ein Ende der Erinnerungspflicht an die Verbrechen der Vergangenheit angemahnt wird.

Unmöglich gewesen wäre die Etablierung von Begriffen wie "kulturelles Gedächtnis" oder "kollektive Erinnerung" ohne bestimmte wissenschaftsinterne Voraussetzungen. Erst die kulturwissenschaftliche Öffnung der separierten Einzelwissenschaften zu fächerübergreifenden Perspektiven konnte die Aufmerksamkeit auf den französischen Soziologen Maurice Halbwachs und dessen Begriff des "kollektiven Gedächtnisses" lenken, auf die Schriften des Mentalitätshistorikers Jacques Le Goff oder auf die Erinnerungstheorien der Informatik, der Neuropsychologie oder der Psychoanalyse. Für diese Horizonterweiterung ist der 1991 von Siegfried J. Schmidt herausgegebene Band "Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung" symptomatisch.

1974 erschien Alexander Mitscherlichs Schrift "Der Kampf um die Erinnerung". Der Titel kann daran erinnern, dass das kulturelle Gedächtnis nicht nur Schauplatz befriedender Sinn- und Identitätsstiftungen, sondern auch heftiger Konflikte ist. Psychoanalytische Erinnerungstheorien (siehe dazu auch die Rezension von Andreas Hamburger zum zweiten Band der bei Suhrkamp erschienenen Reihe "Erinnerung, Geschichte, Identität" in literaturkritik.de Nr. 7/ Juni 1999) hatten die Dynamik widerstreitender Kräfte beim Erinnern und Vergessen seit jeher im Blick. Zumindest in Ansätzen trägt ihr auch die kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie Jan und Aleida Assmanns Rechnung: Die Erinnerung konstruiert die Vergangenheit unter dem Einfluss gegenwärtiger Interessen ständig neu, und sie weist gruppen- und schichtenspezifische Unterschiede auf. Das kulturelle Gedächtnis beansprucht zwar ein hohes Maß an Verbindlichkeit und an institutioneller Absicherung, doch ist es zugleich durch Selbstreflexivität gekennzeichnet.

Zahlreiche Belege dafür liefern die folgenden Rezensionen. Kulturwissenschaftliche und literarische Texte und auch noch die ihrer Rezensenten gehören zu den Medien und Institutionen, in denen sich das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft deutend, kritisierend und kontrollierend ständig auf sich selbst bezieht. Ein Motiv dazu liefert der in den historischen Wissenschaften inzwischen in vielfachen Versionen kursierende Satz, den auch Psychoanalytiker unterschreiben können. Denn er insistiert auf der befreienden Kraft der Selbstreflexion, an der das Erinnern wesentlichen Anteil hat: "Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnert, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen."

Thomas Anz