Was man schon immer über Sex hätte wissen sollen

Der Katalog zur Ausstellung des Hygiene-Museums klärt auf - aber anders als bisher üblich

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vorspiel: Wer nur Interesse an DEM EINEN hat, der kann hier seine Lektüre abbrechen. Sein/ihr Begehren wird keine Erfüllung finden. Der Katalog zur Dresdener Ausstellung ist zwar reich bebildert, aber nur mit wenigen nackten, bei eindeutigen Handlungen fotografierten Körpern, und dann so, dass garantiert keine Lust stimuliert wird, die von einer wissenschaftlichen Betrachtung ablenken könnte. Und warum sollte auch drin sein, was drauf steht? Wer Eindeutiges sucht, wird von seiner Bahnhofsbuchhandlung hervorragend bedient.

Was sich hier in vorbildlicher, einfacher und ansprechender graphischer Gestaltung findet, sind kommentierte Exponate der anderen Art (auf der linken Seite) und wissenschaftliche, essayistische und literarische Texte zum Thema (auf der rechten Seite). Auch die Bandbreite der Exponate ist weit gefächert: Ausschnitte aus Filmen (z. B. Andy Warhols "Kiss"), Fotos eines "Anti-Onanier-Apparats mit Ständer" und eines "Condom-Training-Models", Reproduktionen schriftlicher Zeugnisse von Jugendlichen, Statistiken.

Das Vorwort gibt die wichtigsten Stichworte vor: Trennung der Sexualität von der Fortpflanzung, geänderte Wahrnehmung und Darstellung von Sexualität. Anschließend an zwei frühere Ausstellungen (zur Abtreibung und zur Pille) wird vorrangig die Entwicklung seit der Studentenrevolte, die auch eine "radikale diskursive Wende" zu "Lust als alleinigem Zweck von Sexualität" war, thematisiert und gespiegelt. Martin Dannecker stellt in seinem Beitrag allerdings auch fest, dass heute "sexuelle Treue unter Heterosexuellen nach wie vor" - man müsste eigentlich sagen: wieder - "einen außerordentlich hohen Stellenwert hat". Wie neben anderen Detlef Kuhlbrodt betont, heißt das aber nicht, dass Treue endlos ist: Hierfür gibt es den wunderbaren Begriff der "seriellen Monogamie vor der Ehe". Um das Phänomen Sexualität zu erklären, wird immer wieder auf die grundlegenden Schriften Michel Foucaults hingewiesen, oder Foucaults Thesen werden implizit durch neuere Forschungsergebnisse bestätigt, etwa wenn, in dem Beitrag von Regina Ammicht-Quinn, Macht als das Ziel der Lust bezeichnet wird. Dort heißt es auch zutreffend, "dass der relativ einheitliche Begriff von Sexualität zerbricht und sich breit auffächert in unterschiedliche 'Sexualitäten'". Wir leben im Zeitalter des sexuellen Pluralismus.

Was Sexualität ist, lässt sich nicht auf einen Nenner bringen; der kleinste gemeinsame ist allerdings, dass Sexualität "konstruiert, kulturell codiert und gesellschaftlich geregelt" wird (Marie-Luise Angerer). Der Band regt zur Reflexion darüber an, auch mit neuesten Beispielen, die vor allem die künstliche Befruchtung und die Erektionsprobleme von Männern betreffen ( Stichwort Viagra. Jörg Blech lässt in seinem schön geschriebenen und interessanten Beitrag über die Entwicklung von Potenzmitteln den bei diesem Thema nahe liegenden Witz nicht vermissen. Wer es noch nicht wusste: Das "größte Geschlechtsorgan des Mannes" ist das "Gehirn". Blech schließt mit einem Hinweis auf die Gefahren der neuen Medikamente: "Schätzungsweise 20 bis 30 Prozent der Impotenten leiden [...] zugleich an Gefäß- und Herzerkrankungen. Auf dem Höhepunkt der Lust dürften manche von ihnen in den Himmel reisen. Womit wir beim Ausgangspunkt der Geschichte wären: Es geht aufwärts."

Abschließend einige kleine Mäkeleien: Die zweifellos passenden literarischen Beiträge von Ingo Schulze und Alissa Walser hätten Anlass zu Reflexionen geben können, inwiefern Literatur Sexualität thematisiert. Die wissenschaftlichen Artikel sind vielleicht zu heterogen, sie schwanken zwischen Fortschrittsoptimismus und -pessimismus, zwischen Betonung des Lustprinzips und der Einforderung von Moral. (Die Pluralität der Meinungen kann man allerdings auch als Vorzug begreifen.) Teilweise sind die Beiträge, vor allem der von Klaus M. Beier zum Thema "Sexuelle Übergriffe", für Nicht-Spezialisten nur schwer lesbar. Ansonsten handelt es sich um ein überaus gelungenes, informatives, wissenschaftlichen Ansprüchen genügendes Buch, das auch unabhängig von der Ausstellung gelesen werden kann und sollte. Hervorzuheben ist noch das Sponsoring; das Museum hat eine Krankenversicherung und drei einschlägig arbeitende Firmen mit ins Boot geholt, ohne dass dies zu erkennbaren inhaltlichen Beeinträchtigungen geführt hätte. Dies ist ein Weg, der nicht nur von Museen häufiger beschritten werden sollte.

Titelbild

Deutsches Hygiene Museum Dresden (Hg.): Sex. Vom Wissen und Wünschen.
Hatje Cantz Verlag, Ostfilden-Ruit 2001.
276 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 377571068X

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