Die Hälfte der Zukunft

Ein Merkur-Sonderheft zu Utopien und Zukunft

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Frauen haben keine Zukunft, oder sie können zumindest nicht denken. Dieser Auffassung scheinen wenigstens Karl-Heinz Bohrer und Kurt Scheel zu sein, die Herausgeber des Merkur-Sonderheftes "Zukunft denken - Nach den Utopien". Denn dort haben sie neunzehn Autoren, aber keine Autorinnen versammelt. "Zukunft denken", heißt es in ihren einleitenden Worten, bedeute "der Gegenwart eine Tendenz zu geben". Das numerische Verhältnis der Vertreter beider Geschlechter würde allerdings keine begrüßenswerte Tendenz einleiten. Glücklicherweise ist es jedoch kaum zukunftsträchtig, sondern im Gegenteil deutlich der Vergangenheit zugewandt.

Auch innerhalb der meisten Beiträge spielen Frauen keine - oder allenfalls eine untergeordnete - Rolle. In Joseph Früchtls Aufsatz zum "Paradigma der Science Fiction" mit dem Titel "Übermenschen, Supermänner, Cyborgs" etwa sucht man vergeblich nach zeitgenössischen Autorinnen. Dabei sind gerade sie es, die diesem Genre seit geraumer Zeit neue Impulse verleihen, wie etwa Ursula K. Le Guin, Marge Piercy, Oktavia Butler oder auch Margaret Atwood. Ebenso wenig setzt sich Früchtl mit Theoretikerinnen auseinander. Selbst Donna Haraways "Manifesto for Cyborgs" nimmt er nicht zur Kenntnis. Lieber befasst er sich da schon mit Friedrich Nietzsche und dem "Terminator". Eine Autorin aber erwähnt Früchtl doch: Mary Shelley, deren Roman "Frankenstein", "wiewohl von einer Frau geschrieben", einer "Männerphantasie" entsprungen sei, der "Lust" nämlich, "auf nichtnatürliche Art Leben zu erzeugen".

Donna Haraway aber wird immerhin in Gunter Gebauers "Körper-Utopien" die Ehre einer Erwähnung zuteil. Doch auch hier nur ein einziges Mal und ganz marginal in Klammern gesetzt. Da wundert es kaum, dass der Körper als Geschlechtskörper und Utopien des gender crossing bei Gebauer nicht vorkommen.

Auch in anderen Beiträgen bleiben Männer weitgehend unter sich: Jürgen Jeismann möchte, nicht wie weiland Otto Liebmann "zurück auf Kant", sondern "Vorwärts zu Kant" gehen und schlägt unterwegs heftig - und zu Recht - auf Lenin, Ernst Bloch und andere ein; und Peter Fuchs besucht Jürgen Habermas.

Titelbild

Karl Heinz Bohrer / Kurt Scheel (Hg.): Zukunft denken. Nach den Utopien. Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Heft 629/630.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2001.
204 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3608970290

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