Der Traum der Vernunft und seine Ungeheuer

Michael Schneiders große, doch problematische Romanbiographie eines deutschen Jakobiners

Von Jürgen PelzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Pelzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist schon seit einiger Zeit üblich, bei Diskussionen über die Französische Revolution vor allem die Phase des jakobinischen Terrors herauszustreichen, den historischen Kontext und die politischen Postulate zu ignorieren und stattdessen auf die Entwicklungslinien zu verweisen - die, je nach gusto, zu Auschwitz oder zum Stalin'schen Gulag führen. Wir sind damit nicht mehr so weit von der Restaurationsphase à la Metternich entfernt: Betrachtete man damals die Französische Revolution als Irrweg der Geschichte und suchte jede Erinnerung an ihre Ideale auszulöschen, so verstellt heutzutage vor allem die Instrumentalisierung des Terrors den Blick auf die Geschichte. Michael Schneider hat nun - nach etlichen Sammlungen zeitkritischer Arbeiten - einen veritablen Roman vorgelegt, der sich nichts anderes vornimmt, als die Französische Revolution in einer entscheidenden Phase und in angemessenem Licht erscheinen zu lassen.

Im Mittelpunkt steht die Figur eines deutschen Jakobiners, des ehemaligen Mönchs, Dompredigers und Literaturprofessors Eulogius Schneider, der 1793 zum öffentlichen Ankläger eines Revolutionstribunals ernannt wird, zeitweise mit einer fahrbaren Guillotine durchs Elsass fährt und 31 Todesurteile zu verantworten hat. Dank eines Kurswechsels der jakobinischen Führung und lokaler Intrigen landet der "Blutsäufer", wie er noch jahrzehntelang genannt wird, schließlich selbst unter der Guillotine. Dem fiktiven Biographen, Jakob Nepomuk Brenner, geht es darum, im Abstand von 40 Jahren den Wust der Mythologisierungen und Verteufelungen durchzuarbeiten, um die Rolle seines ehemaligen Studienfreundes und politischen Mitstreiters zu verstehen. Ergänzende Tagebuch- und Traumnotate Schneiders, Briefe, Dialoge, die Tagebücher von Schneiders Frau Sara und andere Dokumente sind so arrangiert, dass man Aufstieg und Fall des "Marats von Strassburg" im Kontext der revolutionären Prozesse besser versteht.

Eulogius Schneider tritt uns dabei als ein Mann entgegen, der sich im Deutschland der 1770er und 1780er Jahre unter schwierigsten materiellen, familiären und beruflichen Bedingungen zum Aufklärer entwickelt, bei jeder Gelegenheit für Freiheitlichkeit, Gleichheit und Toleranz eintritt und bei dem aufrechten Gang, den er versucht, zwangsläufig immer wieder in Konflikte mit diversen Machthabern gerät. Als er 1790 ins "freie", d. h. französische Straßburg übersiedelt, macht er den Schritt zur offenen politischen Betätigung, legt seinen geistlichen Beruf endgültig ab, wird Wahlfranzose und Jakobiner, um sich so voll den Zielen der Revolution widmen zu können. Doch die bedrückende Frage bleibt, warum sich dieser aktive Aufklärer, Humanist und Demokrat für Terrormaßnahmen hergibt. Warum gebiert der "Traum der Vernunft", nach Goyas berühmter Formulierung, Ungeheuer? Mussten die Ideale der Revolution zu Intoleranz und Gewalt, Terror und Krieg führen?

Antworten auf diese Fragen liegen in dieser Dokumentarbiographie auf verschiedenen Ebenen: Der fiktive Biograph erkennt, vorsichtig wertend, bestimmte psychologische Muster bei seinem Freund, ein zwanghaftes Hin und Her zwischen Regelbruch und Bestrafung, ein christlich-dualistisches Schwarz-Weiß-Denken und eine Tendenz zum "Gewaltidealismus". Ohne es zunächst zu erkennen, wird Schneider auch zum Opfer von Intrigen und des politischen Kurswechsels auf lokaler und nationaler Ebene. Höhepunkte des Romans sind zweifellos die politisch-philosophischen Dispute, die Schneider mit seinen Mithäftlingen in Paris führt, unter ihnen ein aristokratisch-gebildeter Aufklärungskritiker und Hypnotiseur, einer Art Pionier der Psychoanalyse. Gelingt dem Roman auf weite Strecken eine überzeugende Balance von politischem Kontext und psychologischer Disposition, so "kippt" er zum Schluss, denn der Autor lässt in den letzten Kapiteln das Ganze in einer Selbstanalyse Schneiders gegenüber seiner ihn im Pariser Gefängnis besuchenden Frau kulminieren; diesem Selbstbekenntnis zufolge gilt eine nicht verarbeitete inzestuöse Beziehung zur Schwester, die früh durch Selbstmord stirbt, als Grund seiner problematischen psychologischen Entwicklung. Gewaltbereitschaft also aufgrund nicht verarbeiteter psychologischer Traumata, das Abgleiten der Revolution ins Terroristische als Ausdruck menschlich-persönlicher Deformationen? Selbst wenn dies als Teilerklärung nachdenkenswert ist, so wirkt diese Wendung zum Schluss doch sehr einseitig und wie ein Rückschritt gegenüber der Grundanlage dieses Romans. Vor allem aber handelt es sich hier nicht mehr um eine historisch verbürgte oder wahrscheinliche Interpretation, sondern vielmehr um die psychoanalytisch inspirierte Spekulation des Autors, die fatalerweise als letzter Erklärungsgrund ausgegeben wird. Eine ansonsten hervorragend recherchierte, gekonnt erzählte, ja spannende Darstellung wird so am Ende fragwürdig.

Titelbild

Michael Schneider: Der Traum der Vernunft. Roman eines deutschen Jakobiners.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001.
620 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3462029681

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