Nun sag, wie hast du´s mit der Emotion?

Uwe M. Maier hält Gericht über Musils Gefühlstheorie

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Leb, so wie du dich fühlst!", schallte es vor wenigen Monaten noch aus den Hitparaden. Der "Big Brother"-Titelsong brachte es auf den Punkt: In der zunehmend komplexer und intransparenter werdenden Gesellschaft bleibt den haltlosen, nach Identität suchenden Individuen nur noch eines, der Rekurs auf ihre eigene Befindlichkeit. Ob es um den Job, die Wohnung, den Partner, den Urlaub, den neuen Kinofilm geht, alles wird danach bewertet, ob es einem positive oder negative Gefühle beschert.

Ein Prozess, der nicht zufällig irgendwann im 18. Jahrhundert begann, zeitgleich mit dem sukzessiven Umbau der Gesellschaft hin zu einem Konglomerat funktional differenzierter Teilsysteme, die immer nur Teilaspekte des Subjekts berücksichtigen, aber nicht mehr den Menschen als Ganzes. Das Gefühl, dass das Leben, welches man führt, einen gar nichts angeht, dass das weitaus meiste von dem, was man tut, das "Wesentliche", das "Selbst" gar nicht berührt, dürfte weit verbreitet sein. Zumindest unter jenen, die sich auf die - noch immer sehr beliebte - Alternative einer Totalidentifikation mit einer sozialen Rolle, einem Job, einer Ideologie, einer Partei oder was auch immer einem die Gesellschaft an Backförmchen anbietet, in die man sein "gestaltloses", teigiges Selbst gießen kann, nicht einlassen wollen oder können. Doch auch für die, die ewig nach dem "Sinn" suchen, hält die Gesellschaft verlockende Angebote bereit: Reiseveranstalter offerieren Erlebnisreisen nach Tibet, spirituelle Gemeinschaften Selbsterfahrungs- und Selbstfindungskurse. Wer das verloren gegangene Gefühl von Authentizität und Identität vor allem physisch wiederfinden will, besucht Fitnessclubs, Schwitzhütten oder springt am Gummiseil vom Kran. Und wem das zu anstrengend ist, der liest Bücher über "Emotionale Intelligenz" und "Die Vernunft der Gefühle".

So in etwa sieht er aus, der gesellschaftliche Hintergrund, den Uwe M. Maier zum Anlass nimmt, in seiner Dissertation den Zusammenhang von "Sinn und Gefühl in der Moderne" zu untersuchen. Die in diesem Medium schon des Öfteren konstatierte "Hausse der Emotionen" auf dem Buchmarkt (vgl. literaturkritik.de 2/99, 3/00 und 1/01) hat, wenn man Maier in seiner Gesellschaftsanalyse folgen will, ihre Ursache in jenem in der Moderne immer attraktiver werdenden Rekurs auf emotionale Bedeutungszuschreibungen, die dem Einzelnen als wichtige Bewältigungsstrategien einer immer problematischer werdenden Wirklichkeit dienen. Maier konstatiert allerdings zwei entgegengesetzte Formen dieses Rekurses, sozusagen eine "konservative" und eine "progressive": Die einen ersetzen einfach den toten Gott, das verlorene Absolute durch die Emotion; ihnen wird das Gefühl zum unhinterfragbaren archimedischen Punkt. Solche häufig anzutreffenden "absolutistischen Deutungsmuster" (Maier) von metaphysisch verstandenen Emotionen als ersehnte Klammern für die inkompatiblen Einheiten "Subjekt" und "Welt" lehnt Maier ab, stünden diese doch gerade im Gegensatz zu jener modernen Gesellschaft, in der sich alles im Übergang, im Wandel befindet. Dieser Moderne angemessener sei, so Maier, eine "prozeßlogisch interpretierte Thematisierung der Emotionalität des Menschen als stabilisierendes, körpernahes Element, freigesetzt von jeglichen metaphysischen Konnotationen".

Wer ebenfalls ein Unbehagen verspürt bei Trivialrezepten wie "Sei spontan!" oder "Hör auf dein Gefühl!" wird Maier bei seiner Kritik am allgegenwärtigen Gefühls-Jargon und Psychoboom gerne folgen. Wie aber der von Maier propagierte "prozesslogische" Umgang mit seinen Emotionen lebenspraktisch aussehen könnte - sofern es sich dabei um mehr als nur um einen mehr oder weniger gesunden Skeptizismus auch seinen Affekten gegenüber handeln soll -, darüber erfährt der Leser nichts.

Zwei Ziele verfolgt Maiers Studie: zum einen will sie Ansätze einer historisch-genetischen Soziologie der Gefühle entwickeln. Dazu rekonstruiert sie den mal absolutistisch, mal prozesslogisch gefärbten soziologischen Gefühlsdiskurs von Max Weber über Georg Simmel, Emile Durkheim, Max Scheler bis hin zu sozialphilosophischen Ansätzen eines Theodore Kemper oder Sartre, um am Ende in Piagets Theorie einer kognitiv-emotionalen Parallelisierung ihren Favoriten zu küren: Dem Schweizer Entwicklungspsychologen zufolge entwickelt sich die menschliche Affektivität wie auch das Denken nach den Prinzipien von Akkomodation und Assimilation. Neue Objekte und Erfahrungen führen nach diesem äquilibrationstheoretischen Ansatz zu psychischen Ungleichgewichten, die durch Anpassungs- und Integrationsleistungen abgebaut werden.

Maiers zweites Ziel besteht darin, den von ihm unterstellten soziologischen Beitrag zur Thematisierung emotionaler Reflexionen in den literarischen Texten Robert Musils herauszuarbeiten: "Robert Musil ist wie kaum ein anderer Intellektueller dieses Jahrhunderts der Bedeutung des Emotionalen nachgegangen. [...] [Maiers Untersuchung] liegt die literatursoziologische Annahme zugrunde, daß in dichterischen Reflexionen zum Vorschein kommt, in welcher Weise das Subjekt in der jeweiligen Zeit real erfahrene Lebenslagen verarbeitet und auf welchen Denkstrukturen diese Verarbeitung fundiert. Vor allem in Musils Werk kann der skizzierte Umbruch im Weltverstehen, der die Wirklichkeit für das Subjekt problematisch werden läßt, beispielhaft herausgearbeitet werden."

Auch hier hält sich Maier an seine These von einem Gegensatz zwischen einem "absolutistischen" und einem "prozesslogischen" Umgang mit Gefühlen. So fruchtbar diese Dichotomie möglicherweise für die Deskription ist, so problematisch, besser gesagt erkenntnisverhindernd wird aber der im Verlauf von Maiers Arbeit zunehmend normative Umgang mit diesem Gegensatz. Gerät doch die Darstellung von Musils Konzepten eines "anderen Zustands", eines "nicht-ratioïden Gebietes" der Literatur oder von Musil-Ulrichs Gefühlstheorie im "Mann ohne Eigenschaften" zunehmend zu einer verkappten Gerichtssitzung, bei der sich mal Argumente für, mal gegen den angeklagten Autor finden lassen. So tauchen etwa in dem Novellenband "Vereinigungen" "begründungslogische Verdachtsmomente" (Maier) auf. Mal deuten Musils Formulierungen in Essays, Tagebüchern oder literarischen Texten eher auf eine gute, moderne prozesslogische Deutung von Emotionen, mal auf eine schlechte, obsolete absolutistische.

Unterm Strich beschert Maiers Gretchenfrage "Nun sag, wie hast du´s mit der Emotion?" dem Leser Antworten, nach denen Musil ein "Grenzgänger zwischen der alten absolutistischen Logik und der in der Diffusion befindlichen relationalen Logik" sei, dem Musil'schen Weltbild ein "transitorischer Charakter" eigne, weil es "ambivalent und inkonsequent" sei, und das Denken dieses Autors "eine Gratwanderung zwischen der in Ablösung begriffenen absolutistischen Logik und einer relationalen Prozeßlogik" darstelle. Letztlich, so der frustrierte Literatursoziologe, lässt sich über Musils Gefühlstheorie kein eindeutiges Urteil fällen: "Denn nicht immer läßt Musil erkennen, ob die emotionalen Experimente der lebenspraktisch notwendigen funktionalen Sinngebung dienen oder auf nicht weiter hintergehbare Fixpunkte verweisen." Da hätte Musil aber wirklich deutlicher werden können.

Titelbild

Uwe M. Maier: Sinn und Gefühl in der Moderne. Zu Robert Musils Gefühlstheorie und einer Soziologie der Emotionen.
Shaker Verlag, Herzogenrath 1999.
296 Seiten, 30,20 EUR.
ISBN-10: 3826561082

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