"Judenbengel", "Judenmädchen", "Entjudung der Justiz"

Zu einem neuen Antisemitismus-Streit um Thomas Mann

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Deutschland verliefen die Feiern zum 100. Geburtstag der "Buddenbrooks" und die Nachfeiern anlässlich des viel gepriesenen Mann-Familien-Films von Breloer ungestört. Eine Stimme, die im Herbst vergangenen Jahres in der Schweiz Unruhe stiftete, fand hier bislang kaum Gehör.

Anlass war eine Pressemitteilung des Schweizer Nationalfonds vom 3. September. Sie informierte über ein Forschungsprojekt des im vorigen Jahr nach Bern berufenen Literaturwissenschaftlers Yahja Elsaghe. "Über den deutschen Autor", so heißt es da, "dessen umfangreicher Nachlass sich fast vollständig in Schweizer Kulturbesitz befindet, wurde und wird nach wie vor viel publiziert. In der wissenschaftlichen Literatur allerdings bisher kaum thematisiert wurden nationalistische, auch antisemitische Tendenzen, die sich im erzählerischen Werk nachweisen lassen und nicht zum Repräsentanten des 'anderen' Deutschland passen, als der sich der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann vor allem seit der Zeit des nationalsozialistischen Deutschlands im Exil etablierte."

Die Feuilletons reagierten prompt und vielfach empört. Unter dem Titel "Diffamierung" verglich "Der Bund" (6. September 2001) den Fall mit den eben erst erhobenen Antisemitismus-Vorwürfen gegenüber Thomas Hürlimanns Novelle "Fräulein Stark". Jetzt zeige sich erneut, "wie heimtückisch in Zeiten der Political correctness ein auch nicht andeutungsweise zutreffender Antisemitismusverdacht wirken kann". Es sei traurig, wie Thomas Mann, der nach seiner Ausbürgerung aus dem nationalsozialistischen Deutschland in der Neuen Zürcher Zeitung schmählich diffamiert worden war, vergeblich um einen Schweizer Pass nachgesucht hatte und, aus dem Exil in den USA nach Europa zurückgekehrt, 1955 in Kilchberg als Amerikaner starb, "nun ausgerechnet im Namen des Schweizer Nationalfonds postum zum Kryptofaschisten gestempelt werden soll."

In der Neuen Zürcher Zeitung (7. September) versuchte Thomas Sprecher, Leiter des Thomas-Mann-Archivs und Präsident der Thomas Mann Gesellschaft, die Öffentlichkeit eines Besseren zu belehren: "Wer aber - wie Thomas Mann - im 'Joseph' die Entwicklung des Volkes Israel als exemplarisch für den Werdegang des humanen Menschen vorführt, wer in eine jüdische Familie hineingeheiratet hat, wer sein Leben lang in einem jüdischen Verlag publiziert hat, wer zahlreiche jüdische Freunde und Briefpartner hatte, bei dem reichen ein paar Figuren aus dem Frühwerk für das pauschale Nachgeborenenverdikt 'antisemitisch' nicht."

Dass es "durchaus zwielichtige Stellen" in Manns Werk gebe, musste auch Sprecher einräumen. Neben antisemitischen Tendenzen enthalte es jedoch zugleich eine Vielzahl weiterer 'Anti'-Tendenzen. In den "Buddenbrooks" geben die Lübecker, im "Zauberberg" die Ärzte, im "Tod in Venedig" die Italiener, im "Doktor Faustus" die Deutschen kein gutes Bild ab. Doch lassen sich damit die oft bösartigen Juden-Karikaturen in Manns Werk, auf die Elsaghe hinweist, entschulden?

Thomas Sprecher hält dem Forschungsprojekt Elsaghes entgegen, dass "der Komplex Judentum" in der bisherigen Thomas-Mann-Forschung keineswegs unbeachtet geblieben sei. Seine Einwände stützen sich zum Teil wörtlich (wenn auch ohne Anführungszeichen) auf Guy Sterns Beitrag zu dem Thema im "Thomas-Mann-Handbuch" (1990, hg. v. H. Koopmann). Der hatte in der Tat bereits eine Fülle von Belegen für die Ambivalenzen und Widersprüche von Thomas Manns literarischen Darstellungen jüdischer Figuren, seine essayistischen und seine privaten Äußerungen über Juden allgemein und einzelne Juden im Konkreten präsentiert.

Gewiss, die Seiten der Bewunderung des Jüdischen und sogar der Identifikation mit ihm, lassen sich bei Thomas Mann nicht leugnen, die im Exil mit unmissverständlicher Schärfe formulierten Interventionen gegen den Antisemitismus und die öffentlichen Appelle, den verfolgten Juden beizustehen, nicht vergessen. Doch die sich immer wieder, zuweilen latent, oft mit frappierender Vehemenz durchsetzenden antisemitischen Ressentiments ebenfalls nicht. Sie sind abstoßend und erschreckend, und auch Bewunderer Thomas Manns und Liebhaber seiner Werke sollten sie nicht beschönigen.

Dem sympathiegeprägten Portrait des klugen und sanftmütigen Doktor Sammet in "Königliche Hoheit" stehen die mehr oder weniger diffamierend gezeichneten Klischeejüdinnen und -juden gegenüber: der Emporkömmling Baron von Stein und seine Gattin ("eine häßliche kleine Jüdin") in "Der Wille zum Glück", der entwurzelte Leo Naphta im "Zauberberg" oder der plattnasige, die Kunden beschnüffelnde Herr Blüthenzweig in "Gladius dei"; die Verehrung Sigmund Freuds steht in merkwürdigem Kontrast zu der mit antisemitischen Stereotypen gezeichneten Figur des Psychoanalytikers Dr. Krokowski. Mit Blick auf den "Doktor Faustus" gestand Thomas Mann selbst 1948, "daß ich in dem Buch dem jüdischen Menschentum und seiner oft so hohen und ernsten Geistigkeit keineswegs gerecht geworden bin und es versäumt habe - versäumen mußte [?] - den Fitelberg und Breisacher durch eine jüdische Figur von Würde (ich denke an den prophetischen Typus Buber) ein Gegengewicht zu geben."

Wenn er in diversen Essays zur "Judenfrage" den Juden eine "eingeborene Liebe zum Geist" bescheinigte, 'musste' er es nicht versäumen, seiner Prognose, dass die Juden assimiliert und europäisiert sein werden, mit dem Gegengewicht der Zusatzbemerkung zu versehen, dass sie dann ihren "fremdartig schmierigen Aspekt" ablegen werden. Mit Recht übrigens korrigierte Frank Schirrmacher in der FAZ (17.12. 2001) das unpolitische Thomas Mann-Bild, das der Film Breloers vermittelt, und zitierte jene Äußerung von 1918, die damals den politischen Bedeutungsaspekt von Manns Antisemitismus unmissverständlich erkennen lässt: "Bei uns ist der Mitregent ein schmieriger Literaturschieber wie Herzog, der sich durch Jahre von einer Kino-Diva aushalten ließ, ein Geldmacher und Geschäftsmann im Geist, von der großstädtischen Scheißeleganz des Judenbengels, der nur in der Odeonbar zu Mittag aß, aber Ceconi's Rechnung für die teilweise Ausbesserung seines Kloakengebisses nicht bezahlte. Das ist die Revolution! Es handelt sich so gut wie ausschließlich um Juden."

Äußerungen ähnlicher Art sind keineswegs Ausnahmen oder Entgleisungen. Ob sie, wie Hermann Kurzke in seiner insgesamt so vorzüglichen, jetzt auch als Taschenbuch erschienenen Thomas Mann-Biographie, schreibt, ihre Anstößigkeit wirklich erst "aus einem Sprachgefühl, das erst nach Auschwitz entstanden ist", beziehen, erscheint doch fraglich. Kurzkes Biographie enthält ein dreißig Seiten umfassendes Kapitel mit dem Titel "Juden". Es geht auf die komplizierten Beziehungen Manns zu den jüdischen Publizisten Maximilian Harden, Alfred Kerr und Theodor Lessing ein, vergisst nicht, die Stimmen des "gräßlichen" antisemitischen Literarhistorikers Adolf Bartels zu zitieren, der Thomas und Heinrich Mann in seine Aufzählung jüdischer Dekadenz-Literaten mit aufnahm, und zitiert aus dem nationalsozialistischen Antrag von 1934, der die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft Thomas Manns mit der Begründung forderte: "Mann ist unverkennbar ein großer Freund der Juden". Diese Einschätzung wird von Thomas Mann-Freunden noch heute, wenn auch mit konträrer Wertschätzung, gerne übernommen. Kurzke ist da differenzierter. Er kennt die anstößigen Stellen in Thomas Manns literarischen Werken, seinen Essays und seiner zu Lebzeiten unpublizierten Hinterlassenschaft. Doch "wirklich schlimm" sei nur eine einzige, private Äußerung, eine Tagebuchnotiz vom 10. April 1933: "Die Juden ... Daß die übermütige und vergiftende Nietzsche-Vermauschelung Kerr's ausgeschlossen ist, ist am Ende kein Unglück; auch die Entjudung der Justiz nicht. - Geheime, bewegte, angestrengte Gedanken. Widrig-Feindseliges, Niedriges, Undeutsches im höheren Sinn bleibt auf jeden Fall bestehen. Aber ich fange an zu argwöhnen, daß der Prozeß immerhin von dem Range derer sein könnte, die ihre zwei Seiten haben ..."

Kurzke führt freilich noch etliche andere wirklich schlimme Äußerungen an, auch die über den gehassten Theodor Lessing, dessen Ermordung durch die Nazis Mann im September 1933 mit erschreckender Kälte, wenn nicht Genugtuung registriert. Kurzke beschönigt sie nicht, sieht in ihr jedoch kein Zeichen für Antisemitismus, sondern interpretiert sie in privaten autobiographischen Zusammenhängen. Ihm gegenüber konzentriert sich Elsaghe stärker auf Thomas Manns literarische Werke und auf verbreitete Muster kultureller Diskurse, an denen Thomas Mann partizipierte und in denen der Antisemitismus zu einem wesentlichen Faktor nationaler Identitätsbildung wurde. Thomas Mann, so erklärte Elsaghe in einem Interview, (Tages-Anzeiger, 10.9.2001), "war bestimmt kein rabiater Antisemit, sondern Durchschnitt. Und ganz gewiss war er in der Gesellschaft, in der er lebte, nicht als Antisemit identifizierbar. Aber bestimmte seiner Erzählungen wie 'Tristan' oder 'Gladius dei' können nicht wirklich verstanden und adäquat beschrieben werden ohne diesen antisemitischen Hintergrund. Umso erstaunlicher, dass dies bis heute niemand getan hat."

Elsaghe selbst hat dies bereits in einer umfangreichen Monographie getan, die im Jahr 2000 unter dem Titel "Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das 'Deutsche'" erschien. Sie wurde jedoch weit weniger beachtet als die Pressemitteilung des Schweizerischen Nationalfonds. Schon in diesem Buch hatte er herausgearbeitet, was die Mitteilung als ein Ergebnis seiner Untersuchungen zitiert: "Auffällig oft überschreiten [in Manns Werken] die durchwegs männlichen deutschen Helden die heimische Grenze und stecken sich im Kontakt mit weiblichen oder verweiblichten Fremden mit Seuchen an." Das 'Deutsche' definiert sich bei Thomas Mann, und nicht nur bei ihm, durch Abgrenzung von gesellschaftlichen Gruppen, die als fremd empfunden werden. In Manns Werken wird dieses "Fremde" oder "Andere" vor allem durch Frauen, Juden und Katholiken repräsentiert.

Die mit avancierten literatur- und kulturtheoretischen Ansätzen vertraute Monographie Elsaghes besticht durch philologische Akribie, textanalytischen Scharfsinn und fundierte Kenntnisse kultureller Kontexte. Was sie beispielsweise, um nur auf ein Detail einzugehen, an der Schilderung des aufsehenerregenden Bildes der "heiligen Gebärerin", das der Herr Blüthenzweig in "Gladius dei" in einem seiner Schaufenster zum Verkauf anbietet, über die Zusammenhänge von Antisemitismus und Kritik der Moderne herausliest, ist ungemein erhellend. Bedient wird hier von Thomas Mann das Stereotyp von den Juden als Schändern christlicher Mysterien, der verbreitete Argwohn gegenüber der Dominanz jüdischer Geschäftsleute im Kunsthandel und zugleich das Unbehagen an der modernen Entweihung der Kunst durch die neuen Techniken ihrer Reproduzierbarkeit. Das vom Schweizerischen Nationalfond annoncierte Projekt knüpft an die Monographie an. Ein zweites Buch zu dem Thema konzentriert sich wohl auf Thomas Manns Spätwerk, ist weitgehend abgeschlossen und soll noch in diesem Jahr erscheinen. Die Debatte über Thomas Manns Antisemitismus wird also ihre Fortsetzung finden.

Als Beitrag dazu lässt sich auch die Geschichte der Beziehung zwischen Thomas Mann und der jüdischen Bibliothekarin Ida Herz lesen, die Friedhelm Kröll in einem spannenden Buch kenntnisreich und psychologisch subtil rekonstruiert hat. Ida Herz sprach den von ihr verehrten Autor im Februar 1924 in der Straßenbahn an. Der offerierte ihr, seine Bibliothek zu ordnen. Ida Herz wurde zur Archivarin des Autors. Das war, wie die Literaturwissenschaftlerin Käte Hamburger in einem kurzen Nachruf (FAZ vom 23.2.1984) auf ihre im Alter von fast neunzig Jahren gestorbene Freundin notierte, "der Beginn der lebenslangen Freundschaft, die Ida Herz mit dem Hause Mann verband. Es war eine Freundschaft, die für die Thomas-Mann-Forschung fruchtbar geworden ist. Ida Herz sammelte alles, was, ihr erreichbar, sich auf Thomas Mann bezog, und baute im Verlauf der Jahrzehnte, zuerst in Deutschland, dann in London, wohin sie emigriert war, ein Archiv auf, das nach dem Tode Thomas Manns dem Züricher Thomas-Mann-Archiv einverleibt wurde."

Die Thomas-Mann-Forschung hat es ihr bislang kaum gedankt. Aus dem umfang- und inhaltsreichen Briefwechsel mit dem Autor wurde ihre Stimme bislang nicht zitiert. Geleitet von einigen abfälligen Tagebuchäußerungen Thomas Manns ("Zu Tisch leider die Herz") und von der nicht sonderlich schmeichelhaften Literarisierung ihrer Person im "Doktor Faustus" als Meta Nackedey und Kunigunde Rosenstil sind Mann-Forscher, wie Friedhelm Kröll aufzeigt, bei Erwähnungen ihrer Person der gönnerhaften Herablassung Thomas Manns gefolgt, nicht frei von antisemitischen und antifeministischen Untertönen. Kurzke immerhin nennt sie in seiner Biographie eine "Frau mit Format" - eine Einschätzung, die Krölls Buch eindrucksvoll bestätigt.

Die Geschichte einer durch erhebliche Kränkungen irritierten Verehrung, die Kröll hier erzählt und dokumentiert, erhellt zumindest am Rande auch Aspekte der Geschichte jüdisch-deutscher Beziehungen. Nach der Lektüre des 1933 noch in Deutschland erscheinenden Eröffnungsteils der Joseph-Tetralogie schrieb Ida Herz am 5. Juli 1933 an den Autor: "Ich möchte in diesem Zusammenhang es Ihnen einmal gesagt haben, was, meines Erachtens, uns deutschen Juden an Ihrem Werk so besonders rührt: es ist für uns die Inkarnation der liebenden Verschmelzung des deutschen Geistes mit dem jüdischen." Kröll sieht in dem Brief die ganze Tragik der damals so vehement gescheiterten jüdisch-deutschen Symbiose-Bestrebungen verdichtet. Etwas von dieser Tragik wiederholte sich, als Thomas Manns Tagebücher veröffentlicht wurden. Trotz der schmerzlichen Kränkungen, die mancher Eintrag für Ida Herz bedeutete, hielt sie an dem Anspruch fest, es habe sich bei der Beziehung zwischen Thomas Mann und ihr um eine Freundschaft gehandelt. Kröll beschreibt diese Reaktion als Manifestation einer uralten Leiderfahrung, als "eine über viele Generationen leidgeprüften jüdischen Diaspora-Lebens hinweg eingesenkte Fähigkeit, Demütigungen zu ertragen".

Titelbild

Yahya Elsaghe: Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das ,Deutsche'.
Wilhelm Fink Verlag, München 2000.
440 Seiten, 41,00 EUR.
ISBN-10: 3770534557

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Friedhelm Kröll: Die Archivarin des Zauberers. Ida Herz und Thomas Mann.
ars vivendi Verlag, Caldozburg 2001.
240 Seiten, 13,50 EUR.
ISBN-10: 3897162296

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Hermann Kurzke: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
672 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3596148723

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