Auschwitz 1965

Zwei Sammelbände widmen sich den Fehl-Lektüren von Texten Peter Weiss'

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Gesamtheit aller Texte, die sich nach Auschwitz mit Auschwitz beschäftigen, bildet ein Archiv politischer Projekte. Diese Disposition erlaubt es, von einem Diskurs über den Holocaust zu sprechen, an dem Textsorten wie der Roman oder die Erzählung, das Gedicht, das Drama, der Essay ebenso beteiligt sind wie die wissenschaftliche Auseinandersetzung, die didaktische Präsentation, die politische Rede, aber auch private Zeugnisse wie Briefe und Tagebücher. Selbstverständlich umfasst der Holocaust-Diskurs mittlerweile auch andere Medien und Gattungen wie Musik und Oper, Hörspiel, Film und Fernsehspiel. Jede dieser Gattungen und jedes dieser Medien hat eine besondere Stellung innerhalb dieses Diskurses, hat je eigene Parameter entwickelt, mit denen das Thema 'Holocaust' präsentiert wird.

Für den zunächst von Klaus Briegleb beobachteten Sachverhalt, dass literarisches Erinnern, je entschiedener es stattfindet, desto zwingender auf das Dokument verwiesen bleibt, dessen Unmittelbarkeit nicht durch andere Modi literarischer Sprache einzuholen ist, finden sich in der westdeutschen Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur einige Beispiele. Besonders durch den Jerusalemer Eichmann-Prozess von 1961 und die Frankfurter Auschwitz-Prozesse von 1963 bis 1965 wurden die Greueltaten der Nationalsozialisten publik. Die dramatischen Aussagen vor Gericht waren von einer Unmittelbarkeit geprägt, die keine Verdrängung zuließ, während die historischen Dokumente und die Autorität der Zeugen kein Ausweichen und keine Ausflüchte erlaubten. Zwar behaupteten sich langfristig Strategien des Leugnens, aber die Art des Schweigens änderte sich. Die gleichzeitigen Debatten um die Aufhebung der Verjährung nationalsozialistischer Verbrechen im Jahre 1965 sensibilisierten, gerade als die Auschwitz-Prozesse zu Ende gingen, eine neue Generation für die Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Juden. Das Gerichtsdrama dieser Prozesse inspirierte naheliegender Weise zuerst die Dramatiker. Gerichtsdokumente lieferten nicht nur eine Sprache, sondern auch die Autorität des Faktischen und damit eine Alternative zu subjektiv befangenem Narrativen und einem relativierenden Multiperspektivismus. Das Dokumentartheater konnte im Angesicht der Prozesse, frei von Zweideutigkeit, aggressiver werden. In rascher Folge erschienen Rolf Hochhuths "Der Stellvertreter" (1963), Heinar Kipphardts "In der Sache J. Robert Oppenheimer" (1964), Peter Weiss' "Die Ermittlung" sowie Kipphardts "Joel Brand" (beide 1965) und Hochhuths "Soldaten" (1967). Für ein gemeinsames Gedenken der von Deutschen verübten Verbrechen an den europäischen Juden war die gespaltene Nation in dieser Zeit trotz der Vielzahl literarischer Aufarbeitungsversuche jedoch weder bereit noch vorbereitet.

Obwohl Peter Weiss noch im Januar 1964 ähnlich unsicher schien und etwa zum Stichwort "Endlösung" skeptisch notierte: "Da sind die Sachberichte./ Aber was ist das heute für uns", schuf er - im Wege einer engen Anlehnung vor allem an die Aussagen des Frankfurter Auschwitz-Prozesses - eine extreme Variante des Dokumentartheaters, was möglicherweise auf eine besondere Anziehungskraft hindeutet, die die Zeugnisse auch auf ihn ausübten. Tatsächlich mochte hier jene schon zwei Jahre zuvor in "Fluchtpunkt" beschriebene spezifische Disposition des Künstlers zum Medium Dokument erneut wirksam werden: Nicht nur dort wird ausführlich die Wirkung einer Filmvorführung über die Vernichtungslager auf den Protagonisten Hieronymus beschrieben - die Bilder, "die so ungeheuerlich waren, daß wir sie zu unseren Lebzeiten nie bewältigen würden [...], gehörten fortan zu unserem Dasein, sie waren nie wieder wegzudenken, und oft machten sie jedes Wort, das gesprochen wurde, jede Aufzeichnung zu Hohn" -, vor allem entschließt sich die Figur Hieronymus zu einer künstlerischen Technik, die auf "gefundene Bruchstücke" zurückgreift, auf "unzählige kleine Einheiten [...] aus [...] Büchern und Zeitschriften [...] Es war schon alles gesagt, die fertigen Bestandteile brauchten nur ergriffen zu werden."

Der hochartifizielle Charakter der "Ermittlung", dessen genetischer Zusammenhang mit dem Dante-Projekt einer neuen "Divina Commedia" in letzter Zeit deutlich herausgearbeitet werden konnte, steht zur poetologischen 'Nutzung' der Zeugnisse nicht im Widerspruch; im Gegenteil: Ein genauerer Blick zeigt die integrale Stellung des in den Dokumenten aufbewahrten Potentials nicht ersetzbarer Unmittelbarkeit im poetischen Unternehmen. Dennoch wurde das Theaterstück oft hart bekämpft und abgelehnt. Viele Vorwürfe wurden ihm gemacht: die Trockenheit der Handlung, die namenlosen Opfer, die übertriebenen Verallgemeinerungen und vor allem die Rechtfertigung des Nationalsozialismus durch das kapitalistische System der Ausbeutung. In dieser kontroversen Diskussion, die weit über den Fachdiskurs im engeren Sinn hinausweist, lässt sich der Prototyp aller künftigen Debatten um den Holocaust erkennen. Es ist nun das Verdienst des Mannheimer Germanisten Christoph Weiß, in seiner Habilitationsschrift diese publizistischen Dokumente zusammengestellt und ausgewertet zu haben. Am Ende der zum überwiegenden Teil unerträglichen deutschen Debatten ist Auschwitz - wie der Verfasser summiert - als "zentrales bewußtseinsgeschichtliches Element der deutschen Gesellschaft" angenommen worden. Gleichzeitig bietet Weiß einen Blick auf das dichte Gewebe aus Politik und Kunst, das die Rezeption der "Ermittlung" wesentlich bestimmt hat. Damit werden auch die Dissonanzen zwischen den literarischen Positionen des Schriftstellers und den ideologischen Axiomen des politisch engagierten Intellektuellen Peter Weiss sichtbar. Dieser ist zweifelsohne zu den deutschsprachigen Autoren der Nachkriegszeit zu zählen die am häufigsten missverstanden werden, wobei zahlreiche Fehl-Lektüren wohl nicht zuletzt auf diesen undurchsichtigen politisch-kulturellen Amalgamierungen beruhen.

Interessanterweise hat dabei das Problem des Judentums bei Peter Weiss die literaturwissenschaftliche Forschung wenig interessiert. Als Halbjude hat Weiss keine jüdische Erziehung erhalten und auch erst ziemlich spät von seiner Abstammung Kenntnis genommen. Außerdem hat er sein Leben lang betont, wie unabhängig er sich von jedweder Rasse, Religion und Nationalität fühle. Dennoch erinnert Peter Weiss' Werk an seine jüdische Identität, auch das Thema der Judenvernichtung nimmt dabei einen bedeutenden Platz ein, wobei er diese Traditionselemente meist mit den Erfahrungen von Leid, Zerstörung, Entsetzen und Exil gleichsetzt. Überall fühlte er sich fremd, entwurzelt, verloren, wie er etwa den Held einer seiner ersten Erzählungen, "Das Duell", reflektieren lässt: "Es gab nichts Einfaches und Selbstverständliches für ihn, nur Zersplitterung und Ungewißheit [...]. Er war ein Untergehender, ein Sterbender, es war eine Kultur, die in ihm starb. Er war ein Wrackstück, doch ausgerüstet mit eigenem Willen. Es galt, diesen Willen auszunutzen, zu akzeptieren, daß man fallfertig, verfault war, es galt, seinem menschlichen Zusammenbruch nicht auszuweichen, ihn durchzustehn und sich dabei gleichzeitig zu revidieren, die Motive der Furcht, des Hasses, der Destruktivität verstehen zu lernen."

Besonders der Verlust der Muttersprache, oder vielmehr die totale Unfähigkeit, diese Sprache weiter zu benutzen, wurde für ihn traumatisch. Dieses Trauma wird vor allem in zwei weiteren, aber bis heute weitgehend unbekannten Texten des Jahres 1965 reflektiert: in der Lessingpreis-Rede "Laokoon oder über die Grenzen der Sprache" und in "Meine Ortschaft". Während der "Ermittlung" der Vorwurf gemacht wurde, sie tilge den antisemitischen Charakter von Auschwitz, so übernimmt Weiss in "Meine Ortschaft" die nationalsozialistische Fremdzuschreibung als einen aktuell wirksamen Teil seiner persönlichen Existenz. Auschwitz als "meine Ortschaft", "für die ich bestimmt war und der ich entkam", als Subtext nahezu aller Texte von Peter Weiss, hält fest, wie das Bewusstsein stillsteht, wenn die Bilder, die man seit 1945 kennt, an 'ihrem' Ort aufgesucht, begraben bleiben und in ihrer Unerreichbarkeit das Bewusstsein in gegenwärtige, krisenhafte Bewegung versetzen. Hier findet sich der Gedanke an die Unabänderlichkeit der Bilder, deren immerwährende, traumatische Präsenz. Auch der Possessivartikel aus dem Titel markiert sowohl den Entwurf einer nicht realisierten Vergangenheit als auch eine Gegenwart. Am Ende dieses Textes wird das Geschehene abermals mit dem Jetzt des Sprechers verknüpft: "Der Lebende, der hierherkommt, aus einer anderen Welt, besitzt nichts als seine Kenntnisse von Ziffern, von niedergeschriebenen Berichten, von Zeugenaussagen, sie sind Teil seines Lebens, er trägt daran, doch fassen kann er nur, was ihm selbst widerfährt." Im Gegensatz dazu steht eine andere possessive Verwendung von Auschwitz: In Martin Walsers ebenfalls 1965 erschienenem Essay "Unser Auschwitz" posiert der Artikel als Aneignung, gleichzeitig aber auch als deutliches Zeichen von Abstandnehmen, indem das Bedürfnis nach Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen an ein schwer bestimmbares deutsches Kollektiv delegiert wird. Während sich Walser einer Sprache in der Hoffnung bedient, seine ihm natürliche Distanz zu Auschwitz abzubauen, so aktiviert Peter Weiss alle ihm zur Verfügung stehenden sprachlichen Mittel, um sich seines Mangels an Distanz zu Auschwitz zu erwehren.

Immer wieder wird die eigene Existenz von der obsessiven Präsenz der Auschwitz-Bilder heimgesucht, und zwar in einer qualitativ anderen Gestalt als sie im Wissen von den Geschehnissen vorliegt. Als 'Traumawirklichkeit' prägen die Verfolgung und das Exil noch die aktuelle Lebenssituation des Entkommenen. Weiss lässt in einer Notiz aus dem Frühjahr 1964 keinen Zweifel daran, dass ihn dies von anderen Bevölkerungsgruppen unterscheidet: "Daß der Emigrant + Jude sich jetzt wieder - und immer noch - damit befaßt, während die andern, die das alles entfacht hatten, seelenruhig leben und gut schlafen -". Seit den ersten jugendlichen Schreibversuchen und während seiner gesamten, anfangs erfolglosen Künstler- und Schriftstellerlaufbahn bis hin zu den letzten Seiten des Romans "Die Ästhetik des Widerstands" hatte Peter Weiss, so hat es den Anschein, nur an einem einzigen Text in unzähligen Varianten neu gearbeitet, ihn um- und weiter-geschrieben und immer wieder zu neuen Stoffen verdichtet. Es war eine konstante Autopoiesis, die den Blick in immer neue Schattenreiche der deutschen Geschichte der Jahre 1933-1945 lenkte. Daran erinnern Jost Hermand und Marc Silberman in ihrer Einleitung zu dem Sammelband "Rethinking Peter Weiss", auf den abschließend hingewiesen werden soll: "His role as an outsider, as a victim of the Third Reich's racial policies against Jews, and as an exile living in Sweden who refused to align himself too closely with either East or West Germany was in some sense a unique position. His voice possessed a critical authority that reasonated in different registers within a Germany divided into two Parts, each with its respective ghosts of the past, and beyond Germany in a world that was skeptically interested in gauging how Germans were going to be integrated into the postwar situation."

Peter Weiss selbst bezeichnete seine 1965 entstandenen Texte als "mein[en] Beitrag zur deutschen Vergangenheits-Bewältigung". 1965 ist, wie Julia Hell in ihrem Beitrag "From Laokoon to Ge" hervorhebt, "the year in which Weiss's work to come to terms with his own past, to engage in his own form of 'Vergangenheits-Bewältigung', reached both its moment of greatest density and a sudden halt with the publication of ,10 Arbeitspunkte eines Autors in einer geteilten Welt". Julia Hell unternimmt einen ersten Versuch, Weiss' Beziehung zu seinem Judentum von den ersten frühen Texten bis zur "Ästhetik des Widerstands" zu untersuchen. Besonders die Interdependenz von radikaler Sprachskepsis und der Unmöglichkeit einer Wiederherstellung der Sprache 'nach Auschwitz' in "Laokoon" führt schließlich zu einer aporetischen Situation: "So wie er seiner selbst nicht mehr sicher war, war er auch der alten Sprache nicht mehr sicher. Gleichzeitig mit dem Versuch, sich wiederzuentdecken und neu zu bewerten, mußte auch diese Sprache wieder neu errichtet werden."

Die Suche nach einer neuen Sprache, einer Sprache, "die nirgendwo mehr einen festen Wohnsitz hat", beschäftigt Weiss bis zur "Ästhetik des Widerstands", wo er einen Nexus zwischen Schreiben, Körper und Stimme zu etablieren trachtet, wobei der Körper der jüdischen Mutter als ein Ort der Authentizität und der historischen Wahrheit fungiert. Auf diese Weise trägt die Stimme des Überlebenden die Spuren des jüdischen (Sprach-)Körpers, der hier zu einer authentischen Stimme wird. Julia Hell unterstreicht in diesem Zusammenhang zurecht, dass Weiss nach den ersten Anläufen der frühen Texte erst in der "Ästhetik des Widerstands" zu einem Modell für das Schreiben nach Auschwitz gelangt. In Auschwitz ist mit der jüdischen Kultur auch die jüdische Erzähltradition vernichtet worden, von diesem Ort aus ist kein ungebrochenes Weitererzählen möglich. Der daraus resultierenden "absoluten Prosa", wie sie Klaus Briegleb einmal mit Blick auf Peter Weiss genannt hat, stünden daher nur zwei Wege offen: "Weiter-Erzählen an und für sich kommt einer Suche nach Freiheit und nach einer Lust an der Imagination neuer Orte nach Auschwitz gleich. Insoweit aber festgehalten wird an einem Erzählen, das an der Shoah nicht vorbeiblickt und sich um die Dehnung des verwundeten 'Kopfes' innen, des Gedächtnis-Ortes bemüht, wird es zwangsläufig satirisch oder grotesk im Stile Hilsenraths, Hofmanns; es bleibt im Bannkreis der Negativen Symbiose." Für Peter Weiss gilt diese Setzung jedoch nicht: Ein Weiter-Erzählen nach Auschwitz bedeutet für ihn umgekehrt die Erfahrung von Auschwitz als "meine Ortschaft". Damit wird Auschwitz 1965 zu einem der Initialpunkte für alle späteren Diskurse.

Titelbild

Christoph von Weiß: Auschwitz in der geteilten Welt. Peter Weiss und die 'Ermittlung' im Kalten Krieg. 2 Bände.
Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 2000.
1380 Seiten, 85,90 EUR.
ISBN-10: 3861102455

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Titelbild

Jost Hermand / Marc Silberman: Rethinking Peter Weiss.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
216 Seiten, 47,00 EUR.
ISBN-10: 0820448516

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