Von Jüden und Juden nach deutscher Art

Fritz Mauthners Roman "Der neue Ahasver" erzählt von Juden und Antisemiten in "Jung-Berlin"

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

",Das verdammte Judenpack', hatte einer der Mitreisenden gesagt. Heinrich blickte um sich. Nein, er mußte sich verhört haben. Es waren ja wohlgekleidete ruhige Leute, die freundlich und in anständigen Formen miteinander sprachen. Ein so pöbelhaftes Wort konnte in diesem Kreise kaum gefallen sein und wäre gewiß nicht geduldet worden." - Wir befinden uns in einem Zugabteil zu Beginn der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts, und Heinrich, der Held des jetzt wiederentdeckten Romans des Sprachphilosophen Fritz Mauthner, hat sich nicht verhört: "Das verdammte Judenpack", sagt ein Mitreisender und die anderen stimmen zu, dulden, schweigen. Die Reisegesellschaft bewegt die "Tagesfrage", die Berlin damals umtreibt: jene "Judensache" - retrospektiv meist "Judenfrage" genannt -, die das Drama der deutschen Juden und jüdischen Deutschen lapidar zusammenfasst.

In der Differenz der Bezeichnungen und der Perspektive des Lesers, der inzwischen weiß, welche fatale Antwort der Nationalsozialismus auf die "Judenfrage" zu geben wusste, liegt das bestürzende Faszinosum von Mauthners Roman. Er ist bis heute so wenig bekannt, dass sein Inhalt selbst in der Fachliteratur falsch wiedergegeben wird. Erzählt wird die Geschichte von Heinrich Wolff, einem jungen Arzt jüdischer Herkunft, der, ohne innere Bindung an das religiöse oder kulturelle Judentum, als deutscher Patriot in den Frankreichkrieg zieht, verwundet wird, in einem christlichen Offizier aus adeliger Familie einen vorurteilsfreien treuen Freund und in der sanft-klugen Tochter einer alten Adelsfamilie eine ergebene Geliebte findet. Deren Liebe vermag es, die Ressentiments des Familienoberhaupts zu überwinden: Nach einer einjährigen Probezeit, die Heinrich ohne Kontakt zu seiner Verlobten und zum europäischen Kontinent als Arzt in Afrika verbringt, steht dem formellen Übertritt des jüdischen, ohnehin kulturprotestantisch gesonnenen Bräutigams zum Christentum und einer Ehe nichts mehr entgegen. Das wenigstens glaubt Heinrich, als er bei seiner Rückkehr Zeuge der antisemitischen Hetzreden im Zug wird. Sie provozieren ihn zu einem spontanen Bekenntnis zum Judentum, das weniger selbstgewisse Identität ausdrückt als verletzten Stolz. Dieser Stolz und die Loyalität gegenüber den geächteten Juden machen es ihm unmöglich, zu einem Zeitpunkt zu konvertieren, wo Konversion einem Verrat gleichkommt: Man verlässt nicht die Truppe, wenn sie in Bedrängnis gerät.

Dass, wer sich als "neuer Ahasver" fühlt, damit sein Liebes- und Lebensglück preisgibt, ist die tragische Pointe des Romans. Er verbindet das Schicksal des jüdischen Arztes mit der öffentlichen Kontroverse um deutsch-jüdisches Selbstbewusstsein, die, nach scheinbar erlangter bürgerlicher Gleichberechtigung der Juden, mit Treitschkes Zweifel an deren Assimilationsfähigkeit 1879 neu entflammt. In diesem sogenannten Berliner Antisemitismusstreit wird der traditionelle religiöse Antijudaismus vom rassischen Antisemitismus abgelöst.

Mauthners "Anti-Antisemitismus-Roman", wie ihn die zeitgenössische Kritik genannt hat, zielt auf eine identifikatorische Lektüre. In die Haut des jüdischen Protagonisten versetzt, soll der Leser die seelische Bedrängnis eines Mannes nachempfinden, der sich als Deutscher fühlt, sich als Jude von diesem Deutschtum ausgeschlossen sieht und den Preis der Konversion aus Gründen der Selbstachtung nicht zahlen kann. Dieser innere Konflikt überzeugt denn auch eher als seine Verlagerung in das Äußere einer belletristischen Handlung. Dort nämlich folgt "Der neue Ahasver" den ästhetisch wenig anspruchsvollen Konventionen des Intrigenromans - das Böse erscheint in Gestalt einer alle sozialen Klassen affizierenden Judenfeindschaft. Mauthner lokalisiert deren Ursachen im Ressentimentcharakter der Zu-kurz-Gekommenen, die in den Juden den willkommenen Sündenbock finden. Angesichts der nachfaschistischen Antisemitismusforschung mag dies wie die simplifizierende Antwort der Unterhaltungsliteratur wirken. Ihr mag man vorwerfen, dass sie ein triviales Erzählgenre mit stereotyper Figurenzeichnung in den Dienst von gutmeinender Tendenzliteratur stellt. Und in der Tat präsentiert der "Roman aus Jung-Berlin" eine Kette von überraschenden Begegnungen, unwahrscheinlichen Koinzidenzen, unmotivierten Umschwüngen der Handlung und Brüchen in der psychologischen Zeichnung der Charaktere. Mauthner mag ein guter Beobachter und kluger Analytiker sein, ein guter und überzeugender Erzähler ist er nicht. Zu oft muss er explizieren, was er nicht vorführen, und behaupten, was er nicht plausibel darstellen kann. Man tut dem Roman also keinen Gefallen, wenn man ihn aus literarästhetischer Perspektive beurteilt.

Ebenso wenig aber sollte man ihn auf das Thema der "Judenfrage" reduzieren. "Der neue Ahasver" ist nicht nur ein Menetekel für das Schicksal der Juden in Deutschland, das aus historischen und moralischen Gründen Aufmerksamkeit verdient.

Wenn man Mauthners Roman heute mit Spannung und Interesse liest, dann auch aus guten literarhistorischen Gründen. Der Leser kommt in den Genuss eines typischen Feuilletonromans, denn als Fortsetzungsroman ist das Werk 1881 erstmals im "Berliner Tageblatt" gedruckt worden, und die wenig subtile, aber wirksame Technik der Cliff-hanger, die seinerzeit zum Erfolg beitrug, verführt auch heute zum Weiterlesen. Zum anderen begleitet die Lektüre ein irritierendes Gefühl des Déjà-vue, dem allerdings eine Täuschung zugrunde liegt: Das Ambiente der Berliner jüdischen Salons, ihr schmarotzendes, kunstbeflissenes parvenuhaftes (und zugleich antijüdisches) Publikum, die Figur des Wucherers und der üppig-schönen Jüdin, das Motiv der Geldehe, die altem christlichem Adel zu Vermögen und neuem jüdischen Geld zu gesellschaftlichem Ansehen verhilft, und nicht zuletzt die pikante Konstellation, dass eine verheiratete Frau die Eheschließung ihres Liebhabers miterleben (und begünstigen) muss - diese auch sozialhistorisch bedeutsamen Themen und Motive gehören in den Fundus des Gesellschafts- und Aufstiegsromans. Der heutige Leser wird sie mit Guy de Maupassants "Bel Ami" oder Heinrich Manns "Im Schlaraffenland" verbinden, zwei wesentlich bekannteren, sicher auch bedeutenderen, auf jeden Fall aber späteren, nämlich erst 1885 und 1900 erschienenen Werken.

Die literarhistorische Einordnung des "Neuen Ahasver" in die Tradition des Berlin-Romans würde einer Facette des Werkes gerecht werden, die bisher, auch vom Herausgeber Ludger Lütkehaus in seinem Nachwort, vernachlässigt wird. Ihre Bedeutung erhellt auch daraus, dass der Kritiker Mauthner zur selben Zeit, als er am "Ahasver" schreibt, Theodor Fontanes "L'Adultera" bespricht. Die Verbindung von Judenfrage und Gesellschaftsroman, bei Fontane vorgezeichnet, macht Mauthner in seinen weiteren Werken aus den 80er Jahren schließlich zu einem eigenständigen literarischen Genre. Der Salon ist dort Stätte einer äußerlich glanzvollen, innerlich höchst prekären jüdischen Gleichberechtigung. Der Erfolg trog. Die Aufgeklärtheit derer, die in den Berliner jüdischen Salons ein und aus gingen (als Gäste wie als Leser), war nicht von Dauer.

Titelbild

Fritz Mauthner: Der neue Ahasver. Roman aus Jung Berlin.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ludger Lütkehaus.
Philo Verlagsgesellschaft, Berlin 2001.
387 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3825702219

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch