Altern zweiten Grades

Peter Bürgers Aufsätze zu Ästhetik und bildender Kunst

Von Johan Frederik HartleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johan Frederik Hartle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die ästhetische Moderne hat ihre Kraft nicht zuletzt daraus gewonnen, ein Ärgernis zu sein. Ausgehend von der Frage, ob sich das Innovationspathos und -potential der ästhetischen Moderne erschöpft hat, ob ihr provokativer Kern bildungsbürgerlich selbstverständlich geworden ist, oder ob sie noch immer als ein erneuerbares und lebendiges Projekt erscheint, diskutiert Peter Bürger in 15 Einzelstudien Streitfragen einer Theorie der ästhetischen Moderne. Immerhin ein "Altern der Moderne" hält bereits der Titel fest, aber Bürger stellt sich einer leicht fertigen Verabschiedung der Moderne entgegen. Wo großspurig das Ende der Moderne verkündet werde, dort sei zumeist nur ein Phantom besiegt, eine verkürzte Moderne in naiven Begriffen.

Zu Bürgers Differenzierungen im Begriff der Moderne zählt in erster Linie die Überwindung einer linearen und naiven Vorstellung der ästhetischen Evolution. In Bürgers Aufsatzband wird der Mythos "Avancierter Materialstand" aufgebrochen und eine interne Differenzierung in den Begriff der kulturellen Moderne eingebaut, um einer verfrüh en Verkündung ihres Endes vorzubeugen. Peter Bürger hebt auf diese Weise die ästhetische Relevanz des Klassizismus von Picasso oder etwa der Landschaftsbilder Gerhard Richters hervor, die ihm trotz ihrer Rückgriffe auf scheinbar antiquierte Techniken und Motive als authentische und relevante Exempel moderner Kunst gelten. Ästhetische Relevanz könne vor diesem Hintergrund beanspruchen, wer die Spannungen von Rückgriff und Avanciertheit, von Anachronismus und Innovationsdruck werkimmanent zum Ausdruck bringe. Die ästhetischen Einzelstudien - zu Ferdinand Hodler, Joseph Beuys und anderen - stehen in diesem thematischen Spannungsfeld von Avanciertheit und historischem Rekurs.

So versucht Bürger den Gehalt der avantgardistischen Kunst einerseits gegen Habermas zu verteidigen, der normative Gesellschaftstheorie ohne ästhetische Subversion betreibe und andererseits gegen den Poststrukturalismus, dessen ästhetischer Subversion eine normative Gesellschaftstheorie fehle und der die philosophische Theorie selbst subvertiere. Letztere Frontstellung hätte man vom Autor des "Ursprungs des Postmodernen Denkens" in dieser Form nicht erwartet. Entgegenhalten möchte man, dass die diskursive Praxis nicht einfach außerhalb der Reproduktion sozialer Herrschaft steht und ihre geordnete Zurüstung mit Sinn entsprechend auch nicht einfach sekundär ist. So aber könnte die poststrukturalistische Rebellion gegen die Sinnordnungen der Philosophie mit gleichem Recht als konsequente Erbin der (insbesondere surrealistischen) Avantgarde gesehen werden - ein Gedanke, den Bürgers "Ursprung des postmodernen Denkens" immerhin anregt.

Die Vielzahl dieser auch - sozialphilosophischen Rahmenfragen - zur ästhetischen Moderne werden umschlossen von zeichentheoretischen Überlegungen, von klassischen ästhetischen Fragen zur historischen Spannung von symbolischer und allegorischer Form, von expressiv sinnlicher Darstellung einerseits und der Reflexion des konstitutiven Bruchs zwischen Zeichen und Bezeichnetem andererseits. Seine Einzelanalysen insbesondere zu Tápies und Miró diskutieren das Verhältnis von Semantisierung und Abstraktion, eröffnen ein weites Feld analytischer Instrumentarien. In den ästhetischen und begrifflichen Details ist Bürger sehr exakt, seine Ausführungen lehrreich. Und vor dem Hintergrund dieses Problembewusstseins entfaltet er ein umfassendes Arsenal ästhetischer Kategorien.

Um den Ansprüchen gegenwärtiger ästhetischer Erfahrung gerecht zu werden, läuft sein "Altern der Moderne" jedoch selbst Gefahr, nicht mehr ganz up to date zu sein. Was bei Peter Bürger Gegenwartskunst heißt, ist selten jünger als zwanzig Jahre. Die Entwicklung der Kunst und der Medienkunst, die ästhetische Transformation des schon klassischen Paradigmas der "Kritik" bleiben in Bürgers Aufsätzen außen vor. Die Besinnung der gegenwärtigen Kunst auf Wahrnehmungsverschiebungen im Zeitalter der Medienkultur wird nicht weiter thematisiert. Auch die zunehmende Öffnung der Grenze von high und low culture kommt bei ihm zu kurz. Seine manchmal verfrühten Vorbehalte gegenüber postmoderner Zeitdiagnostik nehmen ihm dafür möglicherweise die Sensibilität. Eine umfassende Behandlung der denkbaren Themen ist von einer kontingenten Ansammlung verstreuter Aufsätzen zwar nicht unbedingt zu erwarten. Wenn sie jedoch mit dem systematischen Anspruch auftritt, zeitgenössische Kunst einer übergreifenden ästhetischen Diskussion zugänglich zu machen, so könnte der Rahmen tatsächlich ein bisschen weiter gespannt sein.

Daran, dass Bürger Neues mit Begriffen aus dem Fundus alter Diskurse zu analysieren versucht, wird deutlich, wie stark die philosophische Ästhetik in ihrer Abhängigkeit vom historischen Material selbst eine historische Disziplin ist. Bürger thematisiert diese Abhängigkeit der ästhetischen Theoriebildung, wenn er schreibt, dass ästhetische Theorie von sich aus keine Maßstäbe setzen könne, sondern lediglich auf den "Begriff zu bringen" vermöge, was "ästhetisch der Fall" sei. Und was der Fall ist, das ist eben den Prozessen des Alterns und bestenfalls der Verjüngung durch paradigmatische Brüche unterworfen.

Titelbild

Peter Bürger: Das Altern der Moderne. Schriften zur bildenden Kunst.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
216 Seiten, 11,20 EUR.
ISBN-10: 3518291483

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