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Zu zwei neuen Bänden der Döblin-Werkausgabe

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Erzähler Alfred Döblin ist heute zuerst als Romanautor bekannt. Vor allem ist "Berlin Alexanderplatz" als wichtigster deutscher Großstadtroman etabliert; doch gilt zudem "Die drei Sprünge des Wang-lun" als zentraler Prosatext des Expressionismus und ist die "Amazonas"-Trilogie neuerdings auch über den Kreis von Literarhistorikern hinaus als Werk über Kolonisierung und Befreiung, über die Ambivalenz utopischer Entwürfe rezipiert worden.

Döblins umfangreiche Romane erscheinen bei der ersten Lektüre häufig als wenig strukturiert; meist ist dieser Eindruck gerechtfertigt. Eilig hingeschrieben, häufig kaum korrigiert, bieten sie dem Leser eine ungeheure Stoff- und Bilderfülle - eine gedrängte Geschichte von zwanzig Kriegsjahren wie im "Wallenstein" oder von Jahrhunderten wie in "Berge, Meere und Giganten". Oft sind entscheidende Wendungen in wenigen Sätzen zusammengefasst; ebenso oft verselbständigen sich Nebenepisoden und wachsen sich zu eigenen Erzählkomplexen aus. So erscheint es nur folgerichtig, wenn der letzte Roman, "Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende", über weite Strecken auch als Novellenzyklus zu rezipieren ist.

Die Verschränkung von Groß- und Kleinform bestimmte zunächst auch die Rezeption der Erzählungen Döblins im Nachkriegsdeutschland. Döblin hatte zwar seine Kurzprosa fast durchgehend in wohlkomponierter Anordnung publiziert, und so mag die Entscheidung des Herausgebers Walter Muschg, 1962 eine Auswahl dieser Erzählungen vermischt mit Romanauszügen zu publizieren, heute als willkürlich erscheinen. Doch war Döblin damals kaum präsent. Der aus dem Exil zurückgekehrte Autor hatte 1953 resigniert ein zweites Mal Deutschland verlassen. Damals galt es, dem ganzen Werk eines Unbekannten überhaupt erst wieder Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Muschgs Auswahl folgte 1977 eine weitere Edition, die die Romanauszüge beiseite ließ, die Erzählungen dagegen erstmals fast vollständig beinhaltete, doch auf rätselhafte Weise die Chronologie wie auch den von Döblin in den Erzählbänden gewählten Aufbau weiter verwirrte. Allein schon, weil sie Döblins Anordnung wiederherstellt, ist die von Christina Althen herausgegebene Neuedition verdienstvoll, die diejenige Muschgs ersetzt.

Deutlicher als zuvor wird, dass die Erzählungen vor allem dem Frühwerk angehören. Die beiden Sammlungen "Die Ermordung einer Butterblume" (publiziert 1912) und "Die Lobensteiner reisen nach Böhmen" (1917), die jetzt in endlich nachvollziehbarer Reihenfolge je zwölf Erzählungen kunstvoll aufeinander beziehen, nehmen allein weit mehr als die Hälfte des Bandes ein. Diese Texte sind, zusammen mit der anderen zum Teil von Döblin selbst aus Romanen ausgeschiedenen und separat veröffentlichten Prosa der expressionistischen Werkphase, auch qualitativ die wichtigsten. Konventionelles Erzählen findet sich von Beginn an nicht. Im gerafften, häufig a-logischen Verlauf treten sich nicht gefestigte Persönlichkeiten gegenüber. Vielmehr scheint es, als seien die Figuren selbst und später auch ganze Kollektive der Ort, an dem Kräftefelder aufeinanderprallen und Bewegungsenergien sich materialisieren. Dabei macht es wenig Unterschied, ob die Umgebung ein Dorf, eine Märchenwelt oder die Großstadt Berlin ist: Döblin hat Teil an der ästhetischen Moderne dadurch, dass er sich nicht mehr auf die Einheit der Person verlässt. Die gesellschaftliche und technische Moderne ist für ihn in allen ihren Aspekten literaturfähig, doch nur einer der Bereiche, in dem sich die ihr vorgeordneten Naturkräfte ausdrücken. Döblins Sprache trägt anfangs noch Relikte tradierter Schilderungspoesie, die in der Häufung der Adjektive indessen bereits als allzu gesteigerte Anschauung ins Anschauungslose umschlagen kann. Vor allem der zweite Erzählungsband ist nüchterner, gedrängter, dynamischer und somit auch Übergang zu einer zweiten Werkphase, in der Döblin neusachliche Momente seiner Sicht- und Schreibweise anzuverwandeln wusste.

Die Zeit der Weimarer Republik ist nur durch wenige kurze Prosastücke vertreten, die vielfach auf äußerliche Impulse zurückgehen: auf die Bitte von Zeitungsredaktionen, zu einem bestimmten Thema zu schreiben, in zwei Fällen sogar als Beiträge zu Kollektivromanen. Zeigen diese Experimente Döblin als sprachmächtigen, temporeichen Erzähler, so lässt sich in den beiden umfangreichen Texten, die im Band "Heitere Magie" (1948) vereint sind, eine gewisse Ermattung kaum noch überlesen. Die schnelle Folge der Ereignisse tendiert zur Reihung eines Gleichen, ein zuweilen bemühter Witz belastet den Fortgang. Besonders im "Märchen vom Materialismus" tritt die von Faschismus und Krieg verstärkte Absicht, Naturharmonie als Heilmittel gegen die Verwüstungen in der Moderne zu setzen, allzu ideologisch in den Vordergrund. Das Zerstörerische der Naturkräfte, das den frühen Erzählungen ihre Spannung verlieh, ist verbal noch zugestanden, insgesamt jedoch dem - nach Döblins Konversion 1941 - christlich geprägten Verkündigungswillen geopfert.

Der Textgewinn, den die Ausgabe über korrekte Anordnung hinaus bringt, ist schwer abzuschätzen. Vier Erzählfragmente aus dem Nachlass sind erstmals publiziert, die beiden Romanbeiträge von 1925 und 1932 fehlten noch in der Ausgabe von 1977. Der Kommentar bringt zahlreiche Varianten, gestrichene Passagen und Verbesserungen früherer Fehler von Herausgebern. Die Entscheidung, eine vollständige Auflistung nicht zu publizieren, sondern für die Forschung im Deutschen Literaturarchiv Marbach zu deponieren, ist nachvollziehbar: So konnten der Text und die Erläuterungen, die auch wichtige Informationen zur Manuskriptüberlieferung und Druckgeschichte bieten, zu einem Preis bereitgestellt werden, der die Käuferschaft nicht auf den engsten Kreis der zu Döblin Forschenden und einige Fachbibliotheken beschränkt. Der ganze Wert von Althens textkritischer Arbeit bleibt so allerdings unklar.

Für einen zufriedenstellenden inhaltlichen Kommentar fehlte es an Raum; ohnehin wäre es hoffnungslos, auf wenigen Seiten aufzulisten, was alles an zeitgenössischen Diskursen in die Erzählungen einfloss. Althens Verfahren, punktuell Sachinformationen zu liefern, bringt vielfach nützliche Informationen. Manchmal allerdings finden sich kaum begründete Mutmaßungen, während offenkundige Bezüge in Döblins Erzählungen nicht erklärt sind. So stellt sich an diesem Punkt der Eindruck von Willkür über das erforderliche Maß hinaus ein.

Ein weiterer neuer Band der Döblin-Ausgabe bringt einen deutlich größeren Bestand an erstmals veröffentlichten Texten. Die "Briefe II" ersetzen nicht etwa den älteren Briefband, sondern ergänzen ihn. Nur wenige der nun versammelten 457 Briefe lagen bisher im Druck vor. Der Herausgeberentschluss, keine grundlegende Neuausgabe der gesamten Korrespondenz zu unternehmen, hat nachvollziehbare Gründe: zum einen der Vorteil, der Öffentlichkeit möglichst schnell das vorhandene Material zugänglich zu machen; zum anderen die Tatsache, dass manche Briefwechsel, vor allem der mit dem französischen Germanisten Robert Minder, noch nicht zugänglich sind und eine grundlegende Neukonzeption deshalb bald wieder veraltet sein könnte.

Der Nachteil der Entscheidung liegt ebenfalls auf der Hand: "Briefe II" ist in keiner Hinsicht ein selbständiges Buch. Weder ist die Sammlung einem bestimmten Lebensabschnitt Döblins gewidmet - wie im Vorgängerband sind Briefe aus allen Schaffensabschnitten abgedruckt; noch ergibt sich eine Aufteilung nach den Adressaten der Briefe. Auch sachlich entsteht keine klare Trennung. Briefe Döblins etwa zur Gleichschaltung der Preußischen Akademie der Künste 1933 oder zu Redaktionsarbeiten der literarischen Zeitschrift "Das goldene Tor" nach seiner Rückkehr aus der ersten Emigration finden sich in beiden Bänden. Konsequent verzichtet Helmut F. Pfanner als Herausgeber des Bandes darauf, vollständig zu kommentieren, sondern er verweist in vielen Fällen auf die zuverlässigen Informationen, die Heinz Graber für den ersten Band 1970 nach Vorarbeiten Walter Muschgs zusammentrug. Wer mit den Briefwechseln Döblins arbeitet, wird künftig in jedem Fall zwei Bände auf dem Schreibtisch liegen haben müssen.

Welches Bild ergibt sich nun? Kein grundlegend neues. Der Briefschreiber Döblin war kein Mann der problematisierenden Selbstreflektion oder des pathetischen Bekennens. Wie der Autor der Erzählungen darauf verzichtet, über Individualpsychologie zu räsonieren - was nicht ausschließt, dass die Erzählungen im Sinne quasi-wissenschaftlichen Beobachtens durchaus von psychologischer Kenntnis geprägt sind -, so gibt er in den Briefen nur ungern über sich Auskunft. Das geschieht etwa dann, wenn ein neugieriger Doktorand Erkundigungen einholt oder es eine Radiosendung vorzubereiten gilt.

Das völlige Fehlen von Innerlichkeit, der Vorrang der Praxis lassen Döblin als Person um so plastischer vor dem Auge des Lesers entstehen. Man lernt in der geschäftlichen Korrespondenz, die einen Großteil des Bandes einnimmt, einen Autor kennen, der sich sehr genaue Gedanken über Veröffentlichungspolitik und die Wirkungszusammenhänge seiner Texte macht, der sich in zuweilen scharfem Ton abzugrenzen weiß, ohne doch je in den Bereich von Intrige oder Häme abzugleiten.

Der weitaus überwiegende Teil der Briefe stammt, wie schon im Vorgängerband, aus der Zeit nach der Flucht im Jahr 1933: Die Zeit davor, als die literarisch produktivste, nimmt nur etwa fünfzig Textseiten ein, Briefe aus dem Exil bis 1945 120 Seiten, die Zeit nach der Rückkehr aus dem Exil dann 260 Seiten. Die Korrespondenz stammt also weit überwiegend aus einer biographisch für Döblin schwierigen Zeit. Klagen finden sich dennoch fast nie. Döblin berichtet sehr wohl über die Etappen seiner Flucht, auf der auch er, wie so viele andere Exilanten, nach dem deutschen Angriff auf Frankreich 1940 in eine lebensbedrohliche Situation kam; er konstatiert sein Außenseiterdasein gegenüber der amerikanischen Kulturindustrie und - schlimmer - er muss allmählich erkennen, dass seine Versuche, literarisch an der "Reeducation" der Deutschen mitzuwirken, nicht erwünscht sind. Dies alles erfasst er auf die angenehm unsentimentale Weise, die selbst die vergleichsweise wenigen Familienbriefe prägt.

Briefwechsel lassen sich fast stets nur dann angemessen auswerten, wenn nicht nur der Beitrag einer Seite zugänglich ist. Sind sie auf Dialog statt auf Selbstdarstellung gerichtet, werden manche Passagen unverständlich. So auch hier: Häufig wünscht man sich, zu lesen, worauf Döblin antwortete. Die Briefe an den SPD-Politiker Gustav Klingelhöfer, auf deren weltanschauliche Relevanz im Klappentext der Ausgabe eigens hingewiesen ist, sind zum Beispiel im Detail teils nicht nachzuvollziehen. Das Problem begann hier schon mit der Gewohnheit Döblins, erhaltene Briefe wegzuwerfen oder die Antwort auf ihrer Rückseite zu notieren; vieles dürfte also verloren sein. Wären indessen im Kommentar, wenn schon der Druck der Briefe an Döblin nicht möglich war, Informationen gegeben worden, ob und wo die Briefe erhalten sind, auf die er antwortete, hätte zudem Pfanner nicht nur bei einigen wenigen Gelegenheiten Hinweise auf den Inhalt dieser Briefe gegeben, so wäre der Gebrauchswert der Ausgabe deutlich höher.

Der ansonsten informative und reichhaltige Kommentar orientiert über Aufbewahrungsorte und gegebenfalls den Erstdruck der Briefe, über die erwähnten Personen und literarhistorische Zusammenhänge, vor allem was die Zeitschriften und Sammelbände angeht, auf die Döblin eingeht. Einiges wäre hier zu verbessern gewesen. Das reicht von Flüchtigkeitsfehlern ("Rudolf B. Binding") bis hin zu irreführenden Verkürzungen: Über Hanns Heinz Ewers erfährt man zwar zutreffend, dass seine Bücher 1934 beschlagnahmt und verboten wurden, nicht aber, dass er ein Opfer regimeinterner Konflikte war und zuvor mit Propagandawerken etwa zu Horst Wessel versucht hatte, zu einem der führenden Nazi-Schriftsteller zu werden. Solche vereinzelten Schwächen ändern jedoch nichts daran, dass mit dieser Briefausgabe der Döblinforschung wie auch interessierten Döblinlesern eine Fülle neuen Materials erschlossen wird.

Titelbild

Helmut Pfanner (Hg.): Alfred Döblin. Briefe II.
Walter Verlag, Düsseldorf 2001.
624 Seiten, 57,30 EUR.
ISBN-10: 3530167150

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Titelbild

Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Sämtliche Erzählungen.
Herausgegeben von Christina Althen.
Walter Verlag, Düsseldorf 2001.
581 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 3530167169

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