"Ich möchte arbeiten und finde keinen Raum zum Bleiben"

Unveröffentlichte Briefe von Kurt Schwitters aus dem inneren wie äußeren Exil

Von Thomas BetzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Betz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Sie wissen, wie die Möglichkeiten für meine Kunst in Deutschland sind, und es ist schwer, nicht wirken zu können", schreibt Kurt Schwitters Ende November 1936. 16 bisher unveröffentlichte Briefe an das Basler Sammler-Ehepaar Annie und Oskar Müller-Widmann hat Gerhard Schaub herausgegeben und kommentiert, und die 20 Seiten Briefe plus einer zehnseitigen Einleitung und 18 Seiten Erläuterungen füllen allein noch kein Buch. Doch ist es keine Mogelpackung, die Schaub bietet.

Denn neben der eingehenden Kommentierung der Briefe hat Schaub auf weiteren 80 Seiten einen erweiterten Kommentar geliefert, der kenntnisreich und detailliert - wenn auch mit manchen Wiederholungen - ein eigenes Kapitel in der Künstlerbiographie nachzeichnet: Schwitters' Beziehungen zur Schweiz. Schaub informiert, stets auf der Höhe des Forschungsstandes, über die Aufenthalte, Auftritte und Ausstellungen in der Schweiz, auch über die nicht verwirklichten Pläne.

Es ist die ,andere' Schweiz der wenigen für moderne, abstrakte Kunst aufgeschlossenen Sammler und Kunsthistoriker, speziell in Basel, wohin sein Freund Jan Tschichold emigriert ist. Denn die Eidgenossenschaft, das erweist sich im Verlauf der politischen Entwicklung der 30er Jahre, kommt als Asylland nicht in Frage, hier bieten sich Schwitters auch keine Möglichkeiten für künftige künstlerische Aktivitäten. So bleibt der Vortragsabend am 1. Dember 1935 im Hause der Müller-Widmanns in Basel - den Schaub hier erstmals genauer dokumentiert - der Höhepunkt dieser Beziehung.

Abgedruckt ist hier auch, neben einigen Fotos und Faksimiles, eine bisher unpublizierte, handschriftliche Fassung des damals entstandenen "Basel"-Gedichts. Schaub betont die "Zeit-, Orts-, Gelegenheits- und Personengebundenheit zahlreicher literarischer und bildnerischer Arbeiten von Schwitters", womit freilich über deren Strukturen und Funktionen noch nichts gesagt ist. Der Schwitters-Spezialist versammelt in diesem Buch viele Informationen - und daß er hier kaum einen Schritt heraus macht aus dem Feld der "biographischen Schwitters-Forschung", ist ihm nicht negativ anzurechnen - es regt vielmehr an.

So erfährt der Leser nicht nur etwas über die Entstehung und Provenienz der Basler "Bruderholz"-Collage sowie über seine "Schmale Merzsäule" in der Schweiz, sondern auch vieles über Schwitters' Arbeit an und Sorgen um "Das Haus am Bakken", seinen im Exil begonnenen zweiten "Merzbau" im norwegischen Lysaker, sowie über die "Große Merzsäule" und den kleinen "Merzbau" auf der Insel Hjertøya. Als Schwitters im Januar 1937 seinem 18jährigen Sohn Ernst nach Norwegen folgt, weiß er noch nicht, daß er nie mehr nach Deutschland zurückkehren wird.

Der zweite Schwerpunkt von Schaubs Darstellung liegt dementsprechend auf der Exil-Problematik: Das Kapitel "Der lange Weg ins Exil" gibt einen Überblick über Phasen und Stationen, über den "langwierigen Prozess" einer "allmählichen ,Emigration'". Nach 1933 gab es für Schwitters keine Ausstellungs- und Publikationsmöglichkeit in Deutschland mehr, Auftritte und Verdienstmöglichkeiten waren auf das Ausland beschränkt. Künstlerfreunde werden mit Verboten belegt und emigrieren. Die Situation spitzt sich 1936 zu: Die eng befreundete Familie Spengemann wird verhaftet und wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« zu Zuchthaus verurteilt, der "Raum der Abstrakten" des Landesmuseums Hannover wird demontiert. Schwitters muss die Zerstörung seines "Merzbaus" befürchten. Reisen und Geldtransfers, auch der Briefverkehr werden immer schwieriger.

Die zunehmende Isolierung wird sich im Exil fortsetzen. So schreibt er schon 1936, aus einem seiner sommerlichen Arbeitsurlaube in Norwegen: "Arps sowohl, wie Witzinger wollten mich hier besuchen. Niemand ist gekommen. Tschi[chold] muß nach Kopenhagen. Er hat gefragt, wie teuer es von dort nach Molde ist. Es war ihm zu teuer. So bin ich hier eben ohne Freunde und hoffe sehr, dass Sie mir mal schreiben werden, wie es Ihnen geht und meinen Bekannten." Schwitters liebt die norwegische Landschaft, und obwohl er in Norwegen als "Merz"-Künstler keinerlei Verständnis findet, kann er sich hier durch den Verkauf von Landschaftsbildern und Porträts an Hoteliers und Touristen wenigstens den Lebensunterhalt sichern. In den Briefen ist oft von Geld die Rede, von erhofften Verkäufen - und sie zeugen von der Suche nach Anerkennung und Austausch.

1937 wird Schwitters von der Gestapo als Zeuge vorgeladen, seine Werke werden in Deutschland als "entartete Kunst" diffamiert. Er bleibt in Norwegen und beginnt - nun definitiv als Exilant - ein neues Leben: "Es muss beginnen, ich bin erst 50 Jahre, da kann man ja noch einmal anfangen", schreibt er an die amerikanische Kunstsammlerin Katherine S. Dreier.

Schaub betont zu Recht die Bedeutung des Mediums Brief für einen Künstler, "der wie kaum ein anderer auf Zusammenarbeit und Kommunikation angewiesen [...] war". Die Briefauswahl von Ernst Nündel (1974) weist eine Lücke für die Jahre 1933 bis 1936 auf. Die Briefe nun an Annie und Oskar Müller-Widmann (es sind nur zwei Gegenbriefe erhalten) datieren von 1934 bis 1939. Werner Schmalenbach konnte in seiner Monographie von 1967 auf das Konvolut zurückgreifen, hier sind sie erstmals publiziert. Sie geben - wie schon die 1990 veröffentlichten Briefen an das Amsterdamer Ehepaar Hans und Susanna Freudenthal - Aufschluß über Schwitters' Lebensbedingungen und seine Erwägungen in der Zeit des "Vorexils" und Exils. Die drei letzten Briefe von 1939 dokumentieren Schwitters' Vorbereitung seiner Flucht aus Norwegen.

Seinen zweiten "Merzbau" hätte Schwitters lieber in Amerika oder in der Schweiz gebaut, wo er ihn jemandem hätte zeigen können. So bemüht er sich in Lysaker um eine Konstruktion, die sich bei Gelegenheit in transportable Teile zerlegen läßt. "Das Atelier muß einmal in südlicher Richtung auswandern." 1939 hat Schwitters Schwierigkeiten mit der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. Ende des Jahres beginnt er, seine besten Bilder in Kisten einzusargen, "damit sie für eine vielleicht bessere Zeit erhalten bleiben", denn er wird sie auf der weiteren Flucht zurücklassen müssen. Die drohende Invasion der Deutschen in Norwegen nimmt Schwitters die Konzentration zum Arbeiten. "Aber ich versuche nicht daran zu denken", heißt es in seinem letzten Brief an die Müller-Widmans im Dezember 1939, "und das Merzen ist mir ja fürs Leben ebenso wichtig, wie Essen und Trinken."

Titelbild

Gerhard Schaub: Kurt Schwitters und die "andere" Schweiz. Unveröffentlichte Briefe aus dem Exil.
Fannei und Walz Verlag, Berlin 1998.
136 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3927574414

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