Grenzenlose Enden

Michael Roes über die Zukunft von Religion, Gender und Nation

Von Christoph Schmitt-MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Schmitt-Maaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Anbetracht der Ereignisse des 11. September - diese rhetorische Floskel intellektueller Betroffenheit sei erlaubt - markiert Michael Roes' neuer Roman eine Sicht der Dinge, die ein zweites Hinsehen zur Bedingung macht für eine Wahrnehmung, die sich über eine nicht-ausschließende Differenz definiert.

Als utopischer Roman angelegt, versucht er, "Tendenzen aus der Gegenwart in die Zukunft hineinzuprojizieren", wie Roes selbst sein Projekt beschreibt. Vor der Kulisse der afrikanischen Landschaft und Kultur schildert Roes die Geschichte zweier Brüder um das Jahr 2023: Ephraim und David Kanchelli. Beide entstammen dem schwarzen, unterprivilegierten Teil des Landes. Der erstere ist Präsident, der andere Widerstandskämpfer geworden. Ausgangspunkt ist die Verurteilung Davids zum Tode, dessen Handlungen jedoch durch seine Tagebucheintragungen und die Erinnerungen seines Bruders zunehmend verständlicher werden.

Wie Robinson Jeffers, dessen Verse das Buch einleiten, ist auch David Kanchellis Denken von der Vorstellung geprägt, dass der Mensch nur dann überleben kann, wenn er sein Dasein stoisch wie ein Stein oder einsam wie ein Falke gestaltet. Gegenüber der Macht multinationaler Konzerne ist er als Wirtschaftsprüfer machtlos; so kommt er zum Widerstand. Ephraim, der Präsident, muss nun entscheiden, ob er das Todesurteil für seinen Bruder unterschreibt, oder ob er dessen Schilderungen glauben schenkt.

Erneut beherrscht das differenzielle Denken Roes Roman: Christlicher und islamischer Gottesstaat stehen sich ebenso unvereinbar gegenüber wie der schwarze und der weiße Staat. Indem Roes seine Figuren über ihre - fiktive - Zugehörigkeit nachdenken lässt, demaskiert er ihre vorgeblichen Identitäten. Sexualität ist die zweite Form kategorialen Denkens, die Roes aufzuheben versucht - sei es in der Gestalt des homosexuellen Titelgebers, sei es in der expliziten, auch sexuellen, Thematisierung der Frau. Der Prophet der christlichen, von Weißen dominierten Welt, ordnet der Frau eine untergeordnete Stellung zu; die Frauenrolle im Islam ist schon gegenwärtig problematisiert genug.

Damit bringt Roes, der nun auch mit seiner im Jemen angesiedelten Macbeth-Adaption präsent ist, sein "Projekt Moderne" vorläufig zum Abschluss. In seinem "inhaltlich hochtraurigen und hochmoralischen Roman des 19. Jahrhunderts", so Michael Roes, nimmt er die avantgardistische Schreibweise zurück - zugunsten einer Neuverhandlung von Werten und Normen: "Es ist nicht alles egal und alles dasselbe." Roes tritt für ein verantwortetes und verantwortungsbewusstes Handeln ein: "Es sind die eigenen Absichten, die unserer Taten rechtfertigen oder verdammen." Deshalb komme es auch nicht länger auf "die Originalität oder Geschlossenheit eines Werkes an." Bewusst spricht sich der Autor für eine Rückkehr der Moral in die Literatur über den vernunftskritischen Rationalismus aus. Er vertritt damit eine Aufklärung, die das Erzählen an kognitive Ansprüche bindet. Das Schlachtfeld, auf dem die neue Moral verteidigt wird, ist die gesellschaftliche Konfliktstätte, die in postmodernen Zeiten vernachlässigt wurde. "Ich versuche gegen die postmoderne Unterstellung anzuschreiben, es gebe kein Gut und Böse mehr, es gebe keine Werte zu vermitteln. Der modernen Form zum Trotz bin ich in dieser Hinsicht sehr konservativ."

Dieser auch von Habermas konstatierte Konservativismus der Postmoderne ist auch thematisiert in dem in "David Kanchelli" angesprochenen Gegensatz von Wissenschaft und Pflichterfüllung auf der einen, von Kreativität und Verantwortung auf der anderen Seite. Roes fordert die gegenseitige Einflussnahme und die moralische Entgrenzung der Kategorien Wissenschaft und Kreativität. Dementsprechend scharf fällt auch die Kritik gegenüber der Kirche aus, die als moralgebende, aber amoralisch handelnde Instanz Kategorien des Denkens erst schafft. Hier wird Roes' Kritik an der Postmoderne erneut greifbar: Die Auflösung der vorgegebenen Rollen bedeutet, wie Roes an anderer Stelle formuliert, "durchaus mehr Freiheit": Wir nähmen den Verlust allerdings nicht wahr, der mit dieser Auflösung einhergehe. Vor allem die "gesellschaftlichen Aufgaben und menschlichen Konstanten" würden darüber vernachlässigt, ohne sich zu verflüchtigen oder gar aufzulösen. An diesem Punkt setzt Roes' Moralvorstellung von Literatur an - diese Konflikte von heute seien, wenn nicht sogar im verstärktem Maße, auch in Zukunft entscheidend.

Das Diktum einer negativen Utopie im Sinne Samuel Huntingtons, der einen "clash of civilizations" prophezeite, löst Roes auf in einer moralischen Utopie, die vermittels der Erkenntnis von "weiße[r] Maske, schwarze[r] Haut" das Utopia des Thomas Morus einlöst. Die technische Utopie, die sich auf Televisoren (Fernsehtelefone) beschränkt, erscheint dagegen als vernachlässigbar. In dieser antonymen Welt ist auch Roes' Utopie realisiert: Der Tatsache, dass die Informationen in der Welt zunehmen, das "Wissen über die Welt aber dramatisch abnimmt", versucht Roes in seinem Konzept der Aufhebung des kategorialen Denkens entgegenzusteuern. Er hebt die gefügten Grenzen auf, verweist auf ihre sprachliche Bestimmtheit und enttarnt sie dadurch als willkürliche Setzung. Dieses postmoderne Konzept - in Verweigerung von Baudrillards Ablehnung utopischer Lösungsversuche - vollendet eine moderne Kultur, der eben nicht alles egal ist, in die aber auch keine eindeutige Wertigkeit eingeschrieben ist: "Statt zunehmender Vertrautheit wächst nur die Ambivalenz."

Titelbild

Michael Roes: David Kanchelli. Roman.
Berlin Verlag, Berlin 2001.
330 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3827003938

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