Plädoyer für eine kulturwissenschaftliche Emotionsforschung

Zur Resonanz von Daniel Golemans "Emotionale Intelligenz" und aus Anlaß neuerer Bücher zum Thema "Gefühle"

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Emotionale Trottel", "emotionale Analphabeten", oder wie immer sie inzwischen von den Propagandisten "emotionaler Kompetenz" genannt werden, sind nicht nur im alltäglichen Leben eine Katastrophe. Sie sind es auch in den Wissenschaften, zumal in denen vom Menschen. Wer sich um der Wissenschaftlichkeit willen in den Zustand einer künstlichen Gefühlskälte, einer rationalen Anästhesie zu begeben versucht, dem bleiben wesentliche Dimensionen von Kunst und Literatur von vornherein verschlossen. Das ist kein Plädoyer für die Erneuerung eines pathetischen oder gefühlsduseligen Diskurses, wie wir sie aus der Einfühlungsprosa literaturwissenschaftlicher Texte von ehedem vielleicht noch kennen. Auch in literaturbeflissenen Selbsterfahrungsgruppen grassierte er. Die Rede über das Unsagbare der Gefühle brachte hier oft Unsägliches hervor. Es läßt sich indes nicht ignorieren, daß Literatur potentiell eine hochgradig emotionale Angelegenheit ist. Über Liebe und Haß, Freude und Trauer, Lust und Schmerz, Furcht und Mitleid, Angst und Schauer, Spannung und Erleichterung, Wut und Ärger, Wohlgefallen oder Ekel, Faszination und Langeweile, Neid, Bewunderung oder Eifersucht läßt sich durchaus rational sprechen. Dem Anspruch an Wissenschaftlichkeit steht diese Feststellung nur entgegen, wenn man zwischen Wissenschaft und Gefühl unüberbrückbare Gräben sieht.

Das hat die Wissenschaft lange Zeit getan. Wie es dazu kam und welche guten Gründe es gibt, diese Gräben zu schließen, ist in einem Buch nachzulesen, das jede/r Kulturwissenschaftler/in kennen sollte: "Gefühl und Urteilskraft" von der in der Schweiz arbeitenden Philosophin und Psychotherapeutin Carola Meier-Seethaler. In ihrem luziden "Plädoyer für die emotionale Vernunft" beruft sie sich unter anderem auf Evelyn Fox Keller, die schon vor gut zehn Jahren aus psychoanalytischen Einsichten Konsequenzen für die Wissenschaftstheorie zog. Dem männlichen Autonomiestreben der klassischen Forscherpersönlichkeit komme in der naturwissenschaftlich geschulten Subjekt-Objekt-Trennung eine "Versuchsanordnung entgegen, die das beobachtende Subjekt auf Distanz zum beobachteten Gegenstand hält. Dies geschieht zwar im Namen der Objektivität - und im Hinblick auf die Vermeidung subjektiver Projektionen zurecht -, aber gleichzeitig schützt diese Anordnung den Forscher davor, sich emotional auf den Untersuchungsgegenstand einlassen zu müssen."

"Die Lust am Text", erklärte Roland Barthes in einem Kultbuch früherer Jahre, könne "sich niemals erklären". Über die Anarchie der Gefühle, über die Lust wie über den Schmerz, das Entsetzen oder den Ekel, so ein gängiges Vorurteil, läßt sich nicht geordnet und rational sprechen. Die Literaturwissenschaft hat sich solches gerne sagen lassen. Es entschuldigte ihre Hilflosigkeit oder Ignoranz gegenüber der affektiven Wirkung von Literatur. Die immer auch psychologisches Wissen verlangende Frage nach dem Effekt der analysierten Texte hatte die Literaturwissenschaft seit langem mit einer tiefsitzenden Psychologiefeindlichkeit entschieden vernachlässigt oder systematisch um zentrale Bestandteile verkürzt. Wir Literaturwissenschaftler untersuchen die Inhalte und poetischen Verfahrensweisen von Texten, suchen, wenn wir Strukturalisten sind, nach phonologischen, syntaktischen oder semantischen Oppositionen und Äquivalenzen, nach paradigmatischen und syntagmatischen Beziehungen zwischen den Textelementen. Oder wir haben ein Augenmerk auf die verarbeiteten Stoffe, Themen und Motive, analysieren rhetorische Figuren, die räumlichen Modellierungen der dargestellten Welt und den literarischen Umgang mit der Zeit; wir untersuchen Handlungsschemata und Handlungsrollen, Erzählperspektiven und Figurenkonstellationen. Und wir blicken dabei auch über den einzelnen Text hinaus: auf seine Bezüge zu anderen Texten, auf die historische Situation, in der er geschrieben oder gelesen wurde, auf das kulturelle Wissen, das er in sich aufgenommen hat, auf das Medium, in dem er erschienen ist, auf die Gattungskonventionen und Diskursordnungen, von denen er abhängig ist, und so fort. Das alles mag durchaus notwendig und wichtig sein, über der extensiven Untersuchung solcher Phänomene kommt jedoch die Frage nach dem Effekt oder der psychischen Funktion all dessen, was wir da mehr oder weniger gründlich am Text analysiert haben, in der Regel entschieden zu kurz. Wenn wir auf diese Frage eingehen, dann verkürzen wir sie meist auf die Frage nach den kognitiven Funktionen.

Die Rhetorik unterscheidet in ihren Diskursen über rhetorische Effektziele das intellektuelle "docere" vom emotionalen "delectare" und "movere", also das Belehren vom Vergnügen und der Affekterregung. Die Antworten auf die Frage nach der Funktion von Literatur für den Leser (oder auch für den Autor) fallen in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft immer noch vorwiegend intellektualistisch aus, sie bewegen sich meist im Bereich des "docere". An Traditionen der rhetorischen Affektenlehre knüpft sie nicht an. Literatur, so haben wir im literaturwissenschaftlichen Studium gelernt, vermittle uns Lesern bestimmte Einstellungen, Ideologien, Normen oder Werte, sie setze gewohnte Wahrnehmungsmuster und kulturelle Selbstverständlichkeiten außer Kraft, sie entwerfe eigene Konstruktionen von Wirklichkeit, sie lenke die Aufmerksamkeit des Lesers auf ihre eigene Machart, sie gebe Antworten auf die politischen, sozialen oder auch ästhetischen Fragen einer bestimmten Zeit, sie dekonstruiere metaphysische Sinnsysteme und dergleichen mehr. Das alles ist gewiß richtig, vernachlässigt jedoch die emotiven Funktionen von Literatur, ihre Bedeutung vor allem für die Wünsche oder auch Ängste der Autoren und Leser.

Nach neuropsychologischen Forschungen aus den letzten Jahren ist anzunehmen, daß unser Gehirn auditive und visuelle Eindrücke kognitiv und affektiv zugleich verarbeitet, die affektive Verarbeitung jedoch schneller erfolgt. Unsere erste Reaktion auf den Text ist demnach emotional geprägt und weist der weiteren intellektuellen Verarbeitung den Weg. Die in der Emotionspsychologie immer wieder aufgegriffene Frage nach der Priorität kognitiver oder affektiver Wahrnehmung mag sich damit nicht erledigt haben. Ob wir erst auf der Basis eines bestimmten Textverständnisses mit Gefühlen der Lust oder Unlust reagieren oder vorgängige Emotionen unser Verständnis prägen, ist wohl auch weniger wichtig, als die Tatsache, daß das Lesen von Literatur generell ein hochgradig emotionaler Vorgang ist. Ihn zu untersuchen überlassen Literaturwissenschaftler jedoch weitgehend den Psychologen. Und wo immerhin jüngere, systemtheoretisch orientierte Ansätze der Literaturwissenschaft Gefühle der Lust oder der Unlust in ihrer fundamentalen Bedeutung für den bewertenden Diskurs über Literatur wiedererkennen, beachtet man diese Gefühle vor allem als Bestandteile von Argumentationsmustern und "Codierungen", kaum jedoch als Befindlichkeiten realer Subjekte, die mit Literatur umgehen.

Immerhin: Für die Darstellung von Emotionen in Literatur oder Malerei interessiert man sich seit einigen Jahren zunehmend. In Hamburg war unlängst eine Ausstellung junger Kunst aus Großbritannien und Amerika mit dem Titel "Emotion, Gefühl" zu sehen. In Mailand wurde gerade eine Ausstellung mit Bildern seit Beginn der Neuzeit eröffnet, auf denen die Emotionen den Menschen ins Gesicht gemalt sind. So wie es eine disziplinenübergreifende Ignoranz gegenüber Emotionen gab, gibt es gegenwärtig offensichtlich eine ebenso transdisziplinäre Gefühlsverbundenheit. "Die Affekte und ihre Repräsentation in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit": Unter diesem Titel erschien 1996 ein bemerkenswerter Aufsatzband. Er behandelt vor allem zwei Aspekte: Wie setzten sich Medizin, Ethik oder Theologie der frühen Neuzeit mit Affekten auseinander? Und an welchen "Repräsentationscodes" orientierten sich literarische Darstellungen der Affekte? Der weite Sprung zur Frage nach der beabsichtigten oder tatsächlichen emotionalen Wirkung und nach den künstlerischen Mitteln, die diese Wirkungen hervorrufen (sollen), wurde hier allerdings nicht gewagt. Dabei liegt die Vermutung ganz nahe, daß Darstellungen zum Beispiel von Angst oder von Lust vielfach auch Angst oder Lust bei den Lesenden erzeugen (wollen). Fragen nach den dargestellten und nach den bewirkten Affekten sind also durchaus miteinander verknüpft.

Nach den intendierten oder tatsächlichen Emotionen beim Lesen wird jedoch bislang nur in ersten Ansätzen geforscht. Zu den literaturwissenschaftlichen Ausnahmen gehören (von dem in Deutschland kleinen Kreis psychoanalytisch orientierter Literaturwissenschaftler abgesehen) zwei neuere Arbeiten, die bei einem ähnlichen Befund zur Theorie- und Sprachlosigkeit der Literaturwissenschaft gegenüber emotionalen Aspekten des Lesens (und Schreibens) sehr verschiedene Wege einschlagen: Die an Lacan orientierte Arbeit von Evelyne Keitel trägt den Titel "Von den Gefühlen beim Lesen" und befaßt sich vor allem mit diversen "Gestimmtheiten" beim Lesen. Doch wie die an der Kognitionspsychologie orientierte Studie von Henrike F. Alfes mit dem Titel "Literatur und Gefühl" behandelt Keitel nur ein sehr eingeschränktes Spektrum des Themas. Über den tranceartigen oder hypnotischen Zustand beispielsweise, in den jeder intensiv Lesende gerät, erfahren wir auch in diesen Arbeiten nichts. Das selbst- und realitätsvergessene Aufgehen des Lesers in der Welt der Fiktion, von Freud einmal als "milde Narkose" charakterisiert, ist von Tucholsky als ein lustvolles, rauschhaftes Glückserlebnis geschildert worden. "Manchmal, o glücklicher Augenblick, bist du in ein Buch so vertieft, daß du in ihm versinkst - du bist gar nicht mehr da. [...] Dein Körper verrichtet gleichmäßig seine innere Fabrikarbeit - du fühlst ihn nicht. Du fühlst dich nicht. Nichts weißt du von der Welt um dich herum, du hörst nichts, du siehst nichts, du liest."

Jeder kennt diesen Gefühlszustand, doch Literaturwissenschaftler haben sich mit ihm meines Wissens noch nicht ernsthaft beschäftigt. Anregungen dazu könnten sie bei dem Chicagoer Psychologen und Glücksforscher Mihaly Csikszentmihalyi bekommen, der diesen nicht nur beim Lesen eintretenden Zustand als hochgestimmtes "Flow-Erlebnis" beschrieben hat. Über das "Leseglück als Flow-Erlebnis" sprach und debattierte man vor einigen Jahren auf einer Tagung, die u.a. vom "Institut für Glücksforschung" veranstaltet und 1996 in einer Buchpublikation von Alfred Bellebaum und Ludwig Muth dokumentiert wurde. Csikszentmihalyi wird hier mit dem Satz zitiert: "Unter den zur Verfügung stehenden intellektuellen Tätigkeiten ist das Lesen vermutlich zur Zeit die am meisten erwählte Flow-Tätigkeit der Welt." Daniel Goleman wiederum bezeichnet die Fähigkeit, sich auf Flow-Erlebnisse einzulassen, als "höchste Form von emotionaler Intelligenz".

Es wäre ungerecht, die immer noch notorische Inkompetenz in Gefühlsdingen den Literaturwissenschaftlern selbst und ganz allein anzulasten. Bei welcher Disziplin hätte sie sich die Kompetenz denn schon borgen können? Die akademische Psychologie bot da lange Zeit nur sehr eingeschränkte Hilfe. Neben der Literaturwissenschaft und etlichen anderen wissenschaftlichen Disziplinen hatte auch die Psychologie aufgrund ihrer kognitivistischen Ausrichtung in Sachen Emotionen einiges nachzuholen. Um 1980 häuften sich die Stimmen, die diese Defizite beklagten. Ein 1980 erschienenes Handbuch zur Sprachpsychologie von Hannelore Grimm und Johannes Engelkamp moniert gleich zu Beginn: "Während die Appellfunktion in jüngerer Zeit im Kontext der Sprechaktforschung eine gewisse Beachtung findet, wird die Ausdrucksfunktion von Sprache, die aufs engste mit dem Affekt von Sprecher und Hörer verknüpft ist, weiterhin wenig beachtet." 1980 trat der Psychologe Klaus R. Scherer mit dem Appell "Wider die Vernachlässigung der Emotion in der Psychologie" vor den Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Auf ihn beruft sich die 1996 erschienene "Emotionspsychologie" von Stephan Vogel. Dessen "Grundriß einer exakten Wissenschaft der Gefühle", so der die vermeintliche Paradoxie von Wissenschaft und Gefühl noch einmal hervorhebende Untertitel, stellt die Emotionspsychologie "als noch sehr jung und in ihren Grundlagen wenig gefestigt" vor. Daniel Golemans Sachbuch-Bestseller "Emotionale Intelligenz" versteht sich als eine Art wissenschaftsjournalistische Bilanz des erst seit den achtziger Jahren vollzogenen Aufschwungs in der wissenschaftlichen Erforschung von Emotionen.

Daß diejenigen diffusen Zustände, die lange als Antagonisten aller wissenschaftlichen Rationalität galten, eben die Gefühle, nun sogar von 'harten' wissenschaftlichen Disziplinen wie den Neurowissenschaften ernst genommen werden, lasen viele Leserinnen und Leser von Daniel Goleman mit Genugtuung. Sie fanden damit auch ihre eigenen Interessen wissenschaftlich ernst genommen. Einen ähnlichen Effekt hat Dietrich Dörners "Bauplan für eine Seele". Selbst ein so hartgesottener Kognitionspsychologe und Computersimulant wie Dörner klammert die Emotionen nicht aus. Im Gegenteil: Die Provokation seines schon lange angekündigten, gespannt erwarteten und vor wenigen Wochen endlich erschienenen Buches liegt gerade darin, die Computersimulation, die zum Inbegriff künstlicher Intelligenzforschung wurde, auf die Bereiche der Emotionsforschung zu übertragen. Ein PC, der nicht nur "denkt", sondern auch "fühlt": Der gewitzte Bamberger Psychologe weiß, daß er damit, trotz der noch vor kurzem massenhaften Verbreitung lachender und weinender Tamagotchis (die seine Erfindung hätten sein können), die Öffentlichkeit gründlich irritieren kann. Auf positive Resonanz stoßen Goleman, Dörner und andere Emotionsforscher mit der Umwertung der Gefühle, mit der von wissenschaftlicher Rationalität selbst vorgenommenen Rehabilitation der vormals gegenüber dem rationalen Vermögen herabgesetzten Gefühlsleistungen.

Die Bewertung der Emotionen ist ein Kapitel für sich. Und sie ist gerade für Kulturwissenschaftler ein eminent wichtiges Thema. Denn wie Gefühle eingeschätzt werden und wie mit ihnen umgegangen wird, gehört zu den wichtigsten Kennzeichen kultureller Stile. Auch in wissenschaftlichen Kontroversen zu dem Thema geht es weniger um Wahrheiten als um das kulturelle Selbstverständnis ganzer Gesellschaften. "In der Psychologie", so führt Dörner aus, "gibt es eine Diskussion über den Sinn der Emotionen. Manche Forscher meinen, daß es sich dabei um ein Relikt phylogenetisch alter, primitiver Verhaltenssteuerungen handelt, die eigentlich durch die Entwicklung des Intellekts überflüssig geworden sind. Oft stellen solche Forscher die Gefühle in die Nähe von Instinkten." Dörner selbst schließt sich der gegenteiligen Auffassung an. Nach ihr zeigt die Entwicklungsgeschichte eine "Koevolution von Intellekt und Emotion". Denn: "Bei primitiveren Tieren findet man wenig Intellekt und wenig Gefühl. Eine Schildkröte macht weder einen sonderlich intelligenten noch einen besonders gefühlvollen Eindruck (wir wissen natürlich nicht genau, welche Gefühlsstürme sich möglicherweise hinter dem Pokerface einer Schildkröte verbergen). Wenn Gefühle die Ruinen archaischer, präintellektueller Verhaltenssteuerungen wären, dann fällt es schwer, einzusehen, wieso sie sich mit der Entwicklung des Intellekts nicht zurückgebildet, sondern fortentwickelt haben."

Die Vorstellung von der Archaik oder Ursprünglichkeit des Gefühlslebens war allerdings nicht nur die Basis von rationalistischen Abwertungen des Gefühlslebens, sondern ebenso von vernunftkritischen Aufwertungen. Wo das Ursprüngliche zivilisationskritisch mit dem Natürlichen und Echten assoziiert war, wurde dem Ausdruck von Emotionen eine größere Wahrhaftigkeit zugeschrieben als den Mitteilungsformen der rationalen Sprache. "Gefühl ist alles, Name ist Schall und Rauch...": Fausts Antwort auf die "Gretchenfrage" wurde seinerzeit nicht nur im Hinblick auf religiöse Einstellungen akzeptiert.

Mit paradox anmutenden Titelwendungen wie "Die Rationalität des Gefühls" (Ronald de Sousa) oder "emotionale Vernunft" (Meier-Seethaler) werden die herkömmlichen Entgegensetzungen von Vernunft und Gefühl mittlerweile gerne dekonstruiert. Auch der Begriff der "emotionalen Intelligenz" lebt von diesem dekonstruktiven Effekt, ist doch der Intelligenz-Begriff mit dem der Rationalität eng assoziiert. Es scheint sich mittlerweile ein wissenschaftlicher Konsens herauszubilden, daß, so formuliert es Dörner vorsichtig, "Gefühle irgendeine Funktion für den Intellekt haben und daß beide sich irgendwie ergänzen." Obwohl sie Panik und Hilflosigkeit auslösen können, seien sie "im großen und ganzen sinnvoll und steigern die Effektivität des [psychischen] Systems." Der in Toronto lehrende Philosoph Ronald de Sousa hat das komplexe Zusammenspiel von Fühlen und Denken eingehend beschrieben. Einerseits, so zeigt er, werden Gefühle ständig moralisch und rational bewertet, andererseits bilden sie die vorentscheidende Basis rationaler Entschlüsse. Und auch die neurophysiologischen Forschungen von Joseph von LeDoux entdecken Anzeichen für eine Koevolution von Emotionalität und Rationalität.

Wird mit Büchern wie denen von Goleman, LeDoux oder Dörner, wird mit der Erhebung der Biologie und Informatik zu Leitwissenschaften einer kulturwissenschaftlichen Emotionsforschung der Boden entzogen? Keineswegs. Golemans Buch mitsamt seiner Resonanz ist, ohne daß der Autor dies selber wüßte, ein erstrangiger Fall für die Kulturwissenschaften. An ihm läßt sich exemplarisch zeigen, wie nicht nur die 'weichen', sondern auch die 'harten' Wissenschaften teilhaben an langfristigen kulturellen Entwicklungen oder auch kurzfristigeren Trends. Die Wissenschaftler selbst haben dafür häufig kein Gespür. Der produktive Effekt kulturhistorischer Rückblicke auf den künstlerischen, wissenschaftlichen und medizinischen Umgang mit Emotionen, wie sie zum Beispiel von dem erwähnten Aufsatzband über die frühe Neuzeit vorgenommen werden, liegt nicht zuletzt darin, auch die Gegenwart kulturhistorisch zu perspektivieren. Auch und gerade wissenschaftliche Diskurse über Gefühle sind symptomatisch dafür, wie eine Kultur mit Gefühlen umgeht, sie bewertet, aktiviert oder diszipliniert. Der kulturhistorische Blick vermag die Wahrnehmung der eigenen, gegenwärtigen Kultur fundamental zu verändern. Wer durch eine langjährige Beschäftigung mit der Geschichte der Medizin und Psychologie geprägt ist, dem fällt es schwer, Wahrheitsansprüche medizinischer oder psychologischer Theorien ernst zu nehmen. Sie erscheinen ihm immer mehr als zeitgeprägte Konstrukte und gehorchen als solche den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie andere kulturelle Konstrukte auch. Daß Gefühle möglicherweise soziale Konstrukte und keine mentalen Entitäten sind, wird inzwischen, wie das Buch von Stephan Vogel zeigt, auch in Einführungen zur Emotionspsychologie zumindest zur Diskussion gestellt. Daß auch die Psychologie selbst an der Etablierung solcher Konstrukte teilhat, dafür bleibt sie vielfach noch blind.

Goleman zum Beispiel hat von der Kulturabhängigkeit seines bzw. des von ihm referierten Konzepts kaum ein Bewußtsein. Wenn es so etwas wie einen kulturhistorischen Analphabetismus gibt, eine Blindheit gegenüber historischen oder kulturellen Bedingtheiten, Veränderungen und Differenzen, von denen auch das eigene Denken und Sprechen abhängig ist, dann trifft man es bei Naturwissenschaftlern und Psychologen besonders häufig. Einer der interessantesten Teilbereiche der sich etablierenden Kulturwissenschaften ist die Wissenschaftsgeschichte. Die Kränkungen, die sie den Wissenschaften zufügt, sind beachtlich - doch auch ungemein produktiv. Wenn jenen "harten", "männlichen" Wissenschaften, die sich in ihren Überlegenheitsansprüchen gegenüber der "weiblichen" Natur und auch gegenüber den "weichen" Kulturwissenschaften etwas auf ihre emotionsfreie Objektivität zugute halten, wenn diesen Wissenschaften inzwischen von den Kulturwissenschaften ihre "emotionale Substruktur" bewußt gemacht wird, dann mag das zwar zunächst eine irritierende oder sogar bedrohliche Infragestellung ihres Selbstbewußtseins sein, doch kann es sie vor schwerwiegenden Irrwegen bewahren. Bücher wie das von Carola Meier-Seethaler sind da von unschätzbarem Wert.

Liest man als Zeitgenosse der Debatten, die in den letzten dreißig Jahren in den Medien über das gepannte Verhältnis von Gefühl und Vernunft geführt wurden, Golemans Erfolgsbuch, so kann man mit einigem Erstaunen bemerken: Die Zeiten, in denen die Unterdrückung von Affekten verpönt war, als neurotisierend oder gar krebserregend galt, scheinen mittlerweile in weite historische Ferne gerückt zu sein. Doch ist es erst fünfundzwanzig Jahre her, daß Bücher wie Fritz Zorns "Mars", das den Tumor im Hals als Folge unterdrückter Gefühle, als Ansammlung verschluckter Tränen begriff, einem breiten Publikum aus dem Herzen sprach. Daß jener Autor, der in Wirklichkeit Angst hieß, sich Zorn nannte, war ein emotionaler Befreiungsakt. Man lese im Kontrast dazu, was Goleman über den Zorn und gegen die Vorstellung kathartischer Befreiung schreibt: "Wutausbrüche treiben die Erregung des emotionalen Gehirns zumeist in die Höhe, so daß man sich hinterher meist noch zorniger fühlt - und nicht weniger zornig." Das Ideal der emotional intelligenten Person, das Goleman ausmalt, entspricht jener zivilisierten, affektkontrollierten Psyche, wie sie Norbert Elias als Resultat des Zivilisationsprozesses beschrieben hat.

Die ganze postmoderne Vernunft- und Subjektkritik, die im Anschluß an Horkheimer und Adorno die Selbstdisziplinierung als potentielle Selbstzerstörung begriff, wird durch den Erfolg Golemans fast unbemerkt und unwidersprochen weggewischt. Sollte das Publikum, das in den siebziger Jahren massenhaft Fritz Zorn gelesen hat (der wiederum Wilhem Reich gelesen hatte), mit dem Publikum weitgehend identisch sein, das heute Goleman folgt, dann hat es sich vollkommen verändert. "Gebt mir den Mann, den seine Leidenschaft nicht macht zum Sklaven", sagt Hamlet zu Horatio. Goleman macht dies zum Motto seines Kapitels "Sklaven der Leidenschaft".

Golemans Programm der Erziehung des Menschen zur emotionalen Intelligenz ist, kulturhistorisch gesehen, eine Rückkehr ins 18. Jahrhundert, in dem Psychologie und Moral noch kaum zu unterscheiden waren. Es ist, genauer gesagt, eine Rückkehr zu jener empfindsam erweiterten, gefühlskultivierten Form der Aufklärung, die in Lessing einen ihrer hervorragendsten Repräsentanten hatte. Sie setzte alle Gefühle so weit in ihr Recht, als sie sich beherrschen lassen und dem sozialen Zusammenleben förderlich sind. 'Beherrsche deine Wut, deine Rachegefühle, verzichte gegebenenfalls auf Realisierung deiner sexuellen Wünsche, und alles wird am Ende gut.' Neben dem Plädoyer zur Toleranz gehört auch das zur weisen Botschaft, die Lessings "Nathan" verbreitete. Zu Lessings Aufklärungsprogramm gehörte jedoch darüber hinaus die Erziehung zur Mitleidsfähigkeit gemäß der Devise "Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch". Wie Goleman sein ethisches und zugleich psychologisches Programm zusammenfaßt, liest sich das wie eine Umschreibung von Positionen, wie sie das 18. Jahrhundert immer und immer wieder verfochten hat: "Vieles spricht dafür, daß ethische Grundhaltungen im Leben auf emotionalen Fähigkeiten beruhen. Das Medium der Emotionen sind Impulse, und der Keim aller Impulse ist ein Gefühl, das sich unkontrolliert in die Tat umsetzt. Wer seinen Impulsen ausgeliefert ist - wer keine Selbstbeherrschung kennt -, leidet an einem emotionalen Defizit: die Fähigkeit, Impulse zu unterdrücken, ist die Grundlage von Wille und Charakter. Auf der anderen Seite beruht der Altruismus auf Empathie, auf der Fähigkeit, die Gefühlsregungen anderer zu erkennen; wo das Gespür für die Not oder Verzweiflung eines anderen fehlt, gibt es keine Fürsorge. Und wenn in unserer Zeit zwei moralische Haltungen nötig sind, dann genau diese: Selbstbeherrschung und Mitgefühl."

Nach Lessing war vornehmlich die Tragödie bestens dazu geeignet, Mitleidsfähigkeit einzuüben. In der Terminologie Golemans gesprochen, schrieb Lessing der Kunst und Literatur überhaupt den hohen Rang zu, "emotionale Intelligenz" auszubilden. Daß Literatur in der Tat dazu geeignet sein könnte, emotionale Kompetenzen zu fördern, ist eine an Schulen und Universitäten noch wenig verbreitete Einsicht. Um zu durchschauen, wie sie das zu leisten vermag, sind allerdings Literaturwissenschaft und Psychologie gefordert zu kooperieren. Das setzt voraus, daß sich Literaturwissenschaft von den Symptomen der "Alexithymie" befreit, die ihr eigen sind. "Lexis" heißt Wort, "thymos" Gefühl. "Alexithymiker" finden für ihre Gefühle keine Worte. Sie sind, so Goleman, "außerstande, ihre Gefühle genau zu erkennen und vor allem, sie in Worte zu fassen. Was ihnen völlig fehlt, ist die grundlegende Fähigkeit der emotionalen Intelligenz, die Selbstwahrnehmung - zu wissen, was man empfindet, wenn Emotionen einen aufwühlen."

Von der sich gegenwärtig abzeichnenden kulturellen Aufwertung emotionaler Kompetenzen könnten Kunst und Literatur profitieren. Und auch die Kunst- und Literaturwissenschaften. Allerdings nur, wenn sie sich der Emotionalität künstlerischer und literarischer Prozesse nicht länger systematisch verschließen.

Titelbild

Henrike F. Alfes: Literatur und Gefühl. Emotionale Aspekte literarischen Schreibens und Lesens.
Westdeutscher Verlag, Opladen 1995.
203 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3531126458

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Jean-Daniel Krebs (Hg.): Die Affekte und ihre Repräsentation in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 1996.
284 Seiten, 60,80 EUR.
ISBN-10: 3906756459

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Marco W. Battacchi / Thomas Suslow / Margherita Renna: Emotion und Sprache. Zur Definition der Emotion und ihren Beziehungen zu kognitiven Prozessen, dem Gedächtnis und der Sprache.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 1996.
141 Seiten, 25,10 EUR.
ISBN-10: 3631499027

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Stephan Vogel: Emotionspsychologie. Grundriss einer exakten Wissenschaft der Gefühle.
Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 1996.
224 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3531128892

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Alfred Bellebaum / Ludwig Muth: Leseglück. Eine vergessene Erfahrung?
Westdeutscher Verlag, Opladen 1996.
246 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3531128698

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Evelyne Keitel: Von den Gefühlen beim Lesen. Zur Lektüre amerikanischer Gegenwartsliteratur.
Wilhelm Fink Verlag, München 1996.
194 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3770530764

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Ronald de Sousa: Die Rationalität des Gefühls.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1997.
568 Seiten, 38,90 EUR.
ISBN-10: 3518582313

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Joseph Ledoux: Das Netz der Gefühle. Wie Emotionen entstehen.
Carl Hanser Verlag, Wien 1998.
384 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3446193081

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Till Bastian: Der Blick, die Scham, das Gefühl.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998.
156 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3525014406

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Carola Meier-Seethaler: Gefühl und Urteilskraft. Ein Plädoyer für die emotionale Vernunft.
Verlag C.H.Beck, München 1998.
454 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3406439853

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Dietrich Dörner: Bauplan für eine Seele.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999.
831 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3498012886

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Daniel Goleman: Emotionale Intelligenz.
dtv Verlag, München 1999.
422 Seiten, 8,60 EUR.
ISBN-10: 3446185267

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