Vom Martialischen zum Pragmatischen

Ein kooperativer Kommentar zum Klassiker "Sein und Zeit"

Von Thomas WolfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Wolf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Martin Heideggers "Sein und Zeit" aus dem Jahre 1927 wendet sich die renommierte Reihe des Akademie Verlags einem Werk zu, das sich wie kein Zweites dem philosophischen Diskurs der Moderne eingeschrieben hat. Was so lange als einsames Monument aus der Zeit zwischen den Kriegen in ein kurzes Jahrhundert hineinragte, wusste dabei gleichwohl akademischen Anspruch mit der Abgründigkeit damaliger Krisenstimmung zu vereinen. In seinen intertextuellen und zeithistorischen Bezügen zwar mittlerweile weitgehend erschlossen, verlangt der "erstaunliche Torso" (H. Spiegelberg) aber vor allem nach systematischer Auseinandersetzung. Denn, so der Herausgeber: "Wohin sich der Zeitgeist auch wendet - Martin Heidegger ist schon da."

Dabei ist es dem Dresdener Philosophen Thomas Rentsch gelungen, gleichsam eine neue Generation internationaler Interpreten zu gewinnen, die sich unbefangen und kompetent zur Sache selbst äußern. Befreit von der Bürde unmittelbaren Schüler-Daseins oder der Verstrickung in die Streitigkeiten philosophischer Schulrichtungen, reflektieren die 13 Beiträge den neuesten Stand der Heidegger-Forschung, ohne sich allzusehr in die Niederungen berühmt-berüchtigter Begriffsverwirrung zu begeben. Nach einem knappen Vorwort, in dem Rentsch mit groben Strichen die großen Rezeptionsschübe von Existenzialismus, über die Hermeneutik, bis zum Dekonstruktismus der Postmoderne nachzeichnet und auf die Anschlussmöglichkeiten der Gegenwartsdiskussionen aufmerksam macht, treten ausgewiesene Kenner des Heideggerschen Hauptwerkes an, die methodischen und thematischen Probleme dieses so schwierigen wie vieldeutigen Buches abschnitts- und kapitelweise darzulegen.

So widmet sich Jean Grondin (Montréal) zunächst der Einleitung (§§ 1-8), um Sinn und Zweck der sogenannten "Seinsfrage" bzw. einer phänomenologisch-hermeneutischen Methode zu erläutern. Zu Recht weist er darauf hin, dass sich dort transzendentale, analytische und existenzielle Fragestellungen durchdringen, denn es geht um die Aufdeckung einer vermeintlich epochalen "Vergessenheit" qua Destruktion traditioneller Ontologie. Gegen eine verdinglichende Verengung von Selbst- und Weltverständnis gerichtet, zielt die Frage nach dem 'Sein' des vielfältig 'Seienden' weniger auf einen erbaulichen "Sinn des Lebens", sondern vielmehr auf die begrifflichen Bedingungen der Möglichkeit des Fragens und Verstehens überhaupt. Zu beantworten sei dies aber nur durch eine differenzierte Analyse desjenigen Seienden, dem es "in seinem Sein um dieses Sein selbst" geht: des menschlichen Daseins. An dessen alltäglicher Artikulation gelte es kategoriale Strukturen aufzuweisen, um ein unverfälschtes Verständnis seiner zeitlichen Verfassung bzw. schließlich seines "Verfallens" vorzubereiten. Den philosophischen Status dieses Unternehmens behandelt Franco Volpi (Padua) mit den §§ 9-13: In Auseinandersetzung mit alternativen Ansätzen entwickelt Heidegger eine Auslegung primär praktischen Lebens, die sich einer aristotelisch inspirierten Terminologie bedient, um die verschiedenen Formen des Wissens und Handelns zu bestimmen. Romano Pocai (Berlin) hingegen kann zeigen, dass damit die tatsächliche Vielfalt der Weltbezüge zugunsten des Entwurfscharakters bzw. einer transzendentalen Konstitution von "Weltlichkeit" (§§ 14-18) zurückgedrängt wird. Die einseitige Orientierung am Know-how vormoderner Werktätigkeit bricht sich aber gleichwohl am Potential präreflexiver Betroffenheit durch Stimmungen. Denn es besteht ein offenes, ja "unheimliches" Verhältnis zur natürlichen und mitmenschlichen Wirklichkeit, die eben gerade nicht "immer schon" instrumentell verstanden ist.

In einer Übersetzung des entsprechenden Kapitels aus seinem Kommentar "Being-in-the-World" (Cambridge/London 1991) diskutiert Hubert L. Dreyfus (Berkeley) Heideggers einflussreiche Kritik des Cartesianismus (§§ 19-24) und dessen Reduktion der Welt auf "vorhandene" Elemente, die sich noch in der aktuellen Kognitions- und Künstliche Intelligenz-Forschung fortsetzt. Zwar haben naturwissenschaftliche Begriffe und Tatsachen ihre legitime Funktion zur Erklärung kausaler Relationen, doch misslingt eine Übertragung auf Sinn- oder Bedeutungszusammenhänge. Diese seien vielmehr "zuhanden", d.h. über lebensweltlich eingebettete Handlungsabläufe vermittelt, und müssen für die Theoriebildung schon vorausgesetzt werden. Mit einer "Hermeneutik der Alltäglichkeit" (§§ 25-38) in ihrer sozialen und affektiven Dimension behandelt Christoph Demmerling (Dresden) somit das methodisch-thematische Kernstück von "Sein und Zeit". Bei dieser großen Textportion kann er allerdings nur kurze Schlaglichter auf die interessanten Kontroversen um Heideggers Subjekts-, Sozial- oder Sprachphilosophie und deren Schwierigkeiten werfen. So stehen insbesondere die Korrekturen an einem lebensfernen Rationalitätsmodell in einer eigenartigen Spannung zu den vorgeblich wertneutralen Ausfällen gegen eine öffentliche "Diktatur des Man" und sein "Gerede". Als notwendiges Bindeglied zwischen dem vorliegenden ersten und zweiten Abschnitt des unvollendeten Werkes bezeichnet Barbara Merker (Frankfurt) das sechste Kapitel über die "Sorge" (§§ 39-44). In diesem Begriff zieht Heidegger die bisherigen Bestimmungen zu einer ein- und ganzheitlichen Lebensform zusammen, die sich aber durch ihre labile Zuständlichkeit vor allem sonstigen Seienden auszeichnet. "Angst" meint demzufolge auch keine emotionale Schwäche, die therapeutisch behoben werden könne, sondern bezeichnet die Bedingung menschlicher Freiheit, dass es uns eben immer "ums Ganze" geht. Mit der Todesanalyse (§§ 45-53) thematisieren Anton Hügli und Byung-Chul Han (Basel) daher den wohl wirkungsmächtigsten und umstrittensten Komplex des Buches. Der Hauptvorwurf besteht bekanntlich in der mangelnden Berücksichtigung des Sterbens Anderer, was auch ontologisch fragwürdig bleibt: Ist es nicht gerade der Verlust des Gegenüber, der nahegeht und den tätigen Selbstbezug in seiner ganzen Vergeblichkeit und Vergänglichkeit offenlegt?

Einen echten Höhepunkt des Bandes stellt der prägnante Beitrag von Andreas Luckner (Leipzig) dar, der die "Eigentlichkeit" (§§ 54-60) ihres existenziellen Dezisionismus entkleidet und auf ihre ethische Relevanz befragt. Dabei geht es um die "Konstitution der moralischen Persönlichkeit", die verantwortlich handelt und sich verbindlichen Geltungsansprüchen unterstellt. Nicht die inhaltliche Option auf den entschlossenen Einsatz in dürftiger Zeit, sondern eine formale Beschreibung von Autonomie unter Konformitätsbedingungen trifft den Kern des "eigentlichen Selbst-sein-könnens". So erlaubt die "Übersetzung aus dem Althochmartialischen ins Neuniederpragmatische" in gewisser Weise durchaus die Rettung des Philosophen vor der Person Heideggers.

Der äußerst komplexen Zeitthematik (§§ 61-66) widmet sich Marion Heinz (Siegen) auf kaum weniger anspruchsvolle Art, indem sie den methodischen Perspektivenwechsel von der Seins- zur Sinnebene präzise rekonstruiert. Anders gesagt: An der Zeitlichkeit des Daseins zeigt sich, dass die existenzialen Strukturen des Daseins keine abstrakten Begriffe, sondern existenzielle Seinsweisen sind, deren Erfassung auf es selbst zurückwirken. Ob damit das eigentliche Ziel, die Zeit als den Sinn allen Seins überhaupt auszuzeichnen, nicht notwendig scheitern muss, wird allerdings nicht mehr diskutiert. Der Herausgeber Rentsch analysiert in seinem eigenen Beitrag das problematische Verhältnis von "Zeitlichkeit und Alltäglichkeit" (§§ 67-71). In der nach Zeitdimensionen differenzierten "Wiederholung" der bisher herausgestellten Momente überlagert aber eine kulturkritische und ursprungsgerichtete Engführung den systematischen Ertrag der Analysen, der in einer "Hermeneutik unserer Alltagssprache und der damit verbundenen Lebenspraxis" weiterzuführen wäre. Mit der "Geschichtlichkeit" (§§ 72-83) lässt Hans-Helmuth Gander (Freiburg) die Untersuchung schließlich ins Ziel gelangen. Dass die Herkunft hier zunehmend verinnerlicht und der Erkenntnisanspruch der Historie abgewehrt wird, wirft die Frage nach einem Abschied von der Geschichte auf, der den Abbruch des Unternehmens oder eine nicht immer plausible Abkehr zu fordern scheint. Nachdem die eigentliche Kommentierung somit abgeschlossen ist, übernehmen Theodore Kisiel (DeKalb) und Dieter Thomä (St. Gallen) die Aufgabe, den Horizont über "Sein und Zeit" hinaus zu erweitern. Während jener das "Versagen" an den verschiedenen Reformulierungsversuchen der unmittelbar im Anschluss gehaltenden Vorlesungen akribisch herausarbeitet, richtet dieser den Blick auf Heideggers spätere Selbstkritik.

Bereits in dem etwa zehnjährigen Entstehungszeitraum des dann doch hastig publizierten Buches finden sich zahlreiche Motive miteinander verwoben, die - zunächst zurückgedrängt - später wiederkehren oder ganz vergessen werden. So verschiebt sich die Positionsbestimmung innerhalb der zeitgenössischen philosophischen Diskussion zu einer Auseinandersetzung mit der abendländischen metaphysischen Konstellation. Gegenüber Heideggers Empfehlung, sich aufgrund des Misslingens oder vielfacher Missdeutung an das spätere Denken zu halten, sei aber laut Thomä Skepsis angebracht, da die Selbstinterpretation hier gleichsam "aus der Fremde" über das frühere Projekt herfalle und dem berechtigten Anliegen insofern nicht mehr gerecht werde.

Die gut aufeinander abgestimmten Interpretationen zeichnen sich dadurch aus, textnah in das "Dokument eines lehrreichen Scheiterns" einzuführen und seine oft verschlungenen "Holzwege" zu lichten. Ausführliche Bibliographien am Ende der Beiträge bzw. des Bandes insgesamt leisten dabei wertvolle Hilfe für weitere Aufklärungsarbeit. Selbstverständlich kann ein derartiger Kommentar nicht alle Missverständnisse auflösen oder gar grundsätzliche Zweifel zerstreuen. Doch werden hier Probleme formuliert und Perspektiven aufgezeigt, die das Studium des Werkes zwar nicht einfacher, aber doch einsichtiger machen können. Selbst zu denken lernt ja bekanntlich nicht, wer anderen dabei zusieht. Nach-gedachte Fragen statt vor-gedachter Antworten: Da unterscheidet sich die pastorale "Frömmigkeit" des 'Meisters aus Deutschland' noch deutlich von der neuerdings auch telegen vermarkteten "Libido" des Denkens einiger seiner Jünger.

Titelbild

Thomas Rentsch (Hg.): Martin Heidegger: Sein und Zeit.
Akademie Verlag, Berlin 2001.
318 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3050035188

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