Ein Blick auf die dunkle Seite der Geschichte

Yehuda Bauers brillante Studie über die Holocaust-Geschichtsschreibung

Von Philipp StelzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Stelzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Geschichte des Holocaust entzieht sich einfachen Erklärungen", schrieb Hans Mommsen 1983 in seinem einflussreichen Aufsatz "Die Realisierung des Utopischen: Die 'Endlösung der Judenfrage' im 'Dritten Reich'". Mommsen maß den Strukturen des NS-Regimes eine entscheidende Bedeutung für die Genese der Judenvernichtung bei und grenzte sich damit von den "intentionalistischen" Deutungen ab, die auf den Hitlerschen Antisemitismus bzw. seinen Willen, diesen auch in die Tat umzusetzen, als den wichtigsten Faktor verwiesen. Auch wenn inzwischen ein Trend zu Synthesen beider Ansätze auszumachen ist, kann von einem Konsens unter Historikern keine Rede sein.

Yehuda Bauers Studie "Die dunkle Seite der Geschichte" bietet hier Orientierung. Der israelische Historiker, einer der bedeutendsten Holocaust-Forscher, legt keine Gesamtdarstellung vor, sondern analysiert verschiedene Einzelaspekte der Shoah: Nach einigen definitorischen Überlegungen fragt Bauer nach ihrer Erklärbarkeit und vergleicht sie mit anderen Völkermorden. Neben der Diskussion widerstreitender Interpretationsmodelle bildet die kritische Würdigung des jüdischen Widerstands ein zentrales Element des Buches. Bauer prüft ferner nicht nur geschichtswissenschaftliche, sondern auch theologische Deutungen der Shoah auf ihre Plausibilität. Schließlich wird die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Mord an den europäischen Juden und der Gründung des Staates Israel gestellt.

Einer der großen Vorzüge des Buches liegt in der fairen und sachlichen Wiedergabe und Bewertung der verschiedenen Forschungspositionen, auch dann, wenn Bauer sie völlig ablehnt. Wenig Sympathie bringt er etwa den Versuchen vor allem Zygmunt Baumans entgegen, "die Moderne" als die eigentliche Ursache der Shoah zu deuten. Bestimmte Merkmale der Moderne hätten zweifellos eine wichtige Rolle gespielt, dennoch dürfe darüber nicht die hinter der Judenvernichtung stehende Ideologie vergessen werden; ihr lediglich instrumentellen Charakter zuzuweisen, führe in die Irre.

Ähnlich argumentiert Bauer gegen die sogenannten "Strukturalisten" der älteren (Hans Mommsen, Martin Broszat) und jüngeren (Götz Aly) Generation. Er bescheinigt ihnen zwar, wichtiges zur Erforschung der Judenvernichtung beigetragen zu haben, hält aber andererseits fest: "Strukturen können nicht erklären, weshalb Bürokraten Menschen in den Tod schickten". Hier müsse man doch wieder die Ideologie in den Blick nehmen, den radikalisierten Antisemitismus. Zweifellos wird man diesen Einwand nicht übergehen können, aber dennoch scheint es, dass die Gewichtung der zum Holocaust führenden Faktoren stark von der jeweiligen Perspektive abhängig ist: Yehuda Bauers Interesse gilt vor allem den Opfern, während die "Strukturalisten" sich primär mit den Tätern beschäftigen. Ihnen war es wichtig, den Blick über den engsten nationalsozialistischen Führungszirkel hinaus zu erweitern und nach der Rolle der vielen kleinen Rädchen in der Vernichtungsmaschinerie zu fragen. Insgesamt wird es daher - wie bei der von Bauer zu Recht als überholt angesehenen Auseinandersetzung zwischen "Intentionalisten" und "Strukturalisten" - auch hier darauf ankommen, beide Perspektiven, die der Täter und die der Opfer, miteinander zu verbinden. Dass dabei das Interesse deutscher Historiker eher den Tätern, israelischer dagegen den Opfern gilt, dürfte kaum überraschen.

Bauers Verweis auf die Bedeutung der antisemitischen Ideologie hält ihn allerdings nicht davon ab, Autoren wie Daniel Goldhagen einer scharfen Kritik zu unterziehen. Er begrüßt zwar dessen Betonung des antisemitischen Faktors für die nationalsozialistische Politik, wirft ihm aber andererseits "manichäische Schwarzweißmalerei" vor. Mit seiner Auffassung, ein "eliminatorischer" Antisemitismus habe die gesamte deutsche Gesellschaft beherrscht, entlaste Goldhagen letztlich diejenigen gesellschaftlichen Gruppen (vor allem die Akademiker), die für die Propagierung des Antisemitismus in seiner radikalsten Form verantwortlich gewesen seien. Dennoch solle man Goldhagen dafür danken, dass "seine falsche These eine Diskussion über die richtigen Fragen provoziert" habe.

Saul Friedländers Studie "Das Dritte Reich und die Juden" erfüllt hingegen fast alle nach Bauer für die Darstellung der Judenverfolgung notwendigen Kriterien: Friedländer betonte die überragende Rolle des Antisemitismus (er nennt die nationalsozialistische Spielart "Erlösungsantisemitismus"), er nahm überwiegend die Opferperspektive ein und - was auch Bauer praktiziert - er porträtierte Einzelschicksale, um das Ausmaß des Schreckens zu veranschaulichen, nicht ohne jedoch stets nach der Repräsentativität dieser Schicksale für die Gesamtheit zu fragen.

Auf diese Weise verfährt Bauer auch bei der Porträtierung des jüdischen Widerstands. Fallbeispiele dienen ihm dazu, die enorme Bandbreite der jüdischen Reaktionen auf die nationalsozialistische Politik zu verdeutlichen. Er plädiert für eine Betrachtung ohne verklärende Züge, ebenso wenig dürfe man andererseits die geringen Handlungsspielräume etwa der Judenräte außer Acht lassen.

Einer der beeindruckendsten Abschnitte des Buches behandelt die Vergleichbarkeit der Shoah mit anderen Völkermorden. Für Bauer, einem entschiedenen Befürworter des Vergleichs, ist sie aus drei Gründen präzedenzlos: erstens wegen der Abwesenheit pragmatischer Motive, diese seien allein ideologischer Natur gewesen, zweitens wegen ihres universalen Charakters (die Nationalsozialisten ermordeten die Juden überall in ihrem Herrschaftsbereich), und drittens wegen der angestrebten Totalität der Vernichtung - wobei etwa der Mord an den amerikanischen Ureinwohnern zu einer Zeit staatlich gelenkter Vernichtung wohl ähnlich total verwirklicht worden sei. Keinesfalls will Bauer damit eine Hierarchisierung des Leids implizieren; er betont dies mehrmals. Zudem bedeute Präzedenzlosigkeit nicht, dass sich ein Ereignis wie der Holocaust nicht wiederholen könne. Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen des Völkermords diene gerade dazu, den Kampf gegen sie zu erleichtern.

Inwieweit diese Erkenntnisse die Politik beeinflussen können, muss offen bleiben - aus wissenschaftlicher Perspektive kann ein Vergleich ohne relativistische Motive (wie etwa bei Ernst Nolte) jedenfalls ungeheuer nützlich sein. Insgesamt zeigt Yehuda Bauer in seiner trotz der Komplexität des Themas verständlich geschriebenen, sehr gut lesbaren Studie, wie wichtig "Rethinking the Holocaust" - so der englische Originaltitel - nach wie vor ist.

Titelbild

Yehuda Bauer: Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoah in historischer Sicht. Interpretationen und Re-Interpretationen.
Übersetzt aus dem Englischen von Christian Wiese.
Jüdischer Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
383 Seiten, 32,70 EUR.
ISBN-10: 3633541705

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