Tauschobjekte

Walter Erharts Studie über den Ursprung moderner Männlichkeit

Von Dietmar TillRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Till

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

John Durbeyfield, ein verarmter Händler in Thomas Hardys Roman "Tess of the D'Urbervilles" (1891), bekommt von einem genealogie-kundigen Pastor offenbart, dass er der alten Ritterfamilie der D'Urbervilles entstammt. Seine Frau erfährt, dass eine in der Nähe wohnende reiche Dame ebenfalls den Namen D'Urberville führt, und beide schmieden sofort den Plan, die unbekannte Verwandtschaft zu nutzen, um ihre Tochter Tess an einen jungen Mann aus besserem Hause zu verheiraten. "Tess wird zur Heldin dieses Romans, indem sie", so Walter Erhart in seiner Studie über die "Familienmänner", "als matrimonales Tauschobjekt eingesetzt wird. Sie bildet das Medium, mit dem die Familie ihren neuen genealogischen Aufstieg plant." Der Roman, so Erhart, inszeniert diese Tauschhandlung in doppelter Weise: In der ersten Szene verpasst Tess die Chance, von Angel Clare, einem jungen Mann aus der Oberschicht, beim traditionellen Maitanz aufgefordert zu werden. Der Tauschversuch missglückt, weil Tess sich zu diesem Zeitpunkt ihrer vornehmen Herkunft noch nicht bewusst ist und sie im System des symbolischen Tausches "noch nicht zum prestigeträchtigen Objekt" geworden ist. Ein zweiter Versuch wird gestartet. Tess wird mit Vetter Alec verkuppelt, um auf diese Weise die väterlich-männliche Familien-Genealogie fortzuführen. Auch dieser Versuch scheitert. Die Verwandten entpuppen sich als falsch und haben den Adelstitel nur durch Kauf erworben; Alec misshandelt Tess; das aus der Vergewaltigung hervorgegangene Kind stirbt kurz nach der Geburt. Der Versuch der Familie Durbeyfield/D'Urberville über den Rekurs auf ihre adelige Genealogie sozial aufzusteigen, scheitert kläglich.

Im folgenden Jahr beginnt Tess als "milkmaiden" in einer Molkerei zu arbeiten. Es sieht zunächst so aus, als wolle Tess auf ihre adelige Herkunft und den damit verbundenen symbolischen Tauschwert verzichten. Tatsächlich allerdings werden lediglich die genealogischen Paradigmen gewechselt. Die Molkerei liegt nämlich in einem fruchtbaren Flusstal, ganz in der Nähe der Familiengruft der D'Urbervilles. Die Erinnerung an die toten Vorfahren ruft in Tess die mütterliche Seite der Familie ins Gedächtnis; aus den "unverbrauchten Ressourcen ihrer mütterlichen Vorfahren" schöpft sie neuen Mut. Auch Angel Clare aus der ersten Szene tritt nun wieder auf, und auch er, so Erhart, füge sich nun in eine "gleichsam mütterliche Genealogie" ein. Angel, den Hardy hier mit deutlich zivilisationskritischen Zügen ausstattet, hypostasiert Tess zu einem Idealbild "weiblichen Ursprungs und weiblicher Natur". Dem symbolischen Tausch durch Heirat entzieht Angel sich zunächst und stellt auf diese Weise seine eigene "paternale Geschichte" still. Das Problem widerstreitender Entwürfe von 'Weiblichkeit' - Tess als "Ikone der Weiblichkeit" und "väterliches Tauschobjekt" - stellt sich, als Angel seine Vaterstadt besucht und die Heiratsfrage erneut aktuell wird: "Auf der einen Seite soll der Ort weiblicher Natur in eine paternale Erzählung übertragen werden, auf der anderen Seite verheißt dieselbe Natur eine Rückkehr zum maternalen Ursprung, an dem die Spuren dieser Erzählung wieder getilgt sind."

Natürlich führt alles in die Katastrophe. Angels Versuch, Tess nach Aufkauf des Landsitzes der D'Urbervilles in eines standesgemäße 'Lady' zu verwandeln und der eigenen Familie damit ein angemessenes Tauschobjekt vorzeigen zu können, scheitert, als Tess ihm von der Vergewaltigung durch den angeblichen Verwandten Alex erzählt. "Dieses Geständnis aber setzt Tess aus der Natur wieder in eine Geschichte zurück, die das Bild der Tess in den Augen Angels zerstört": Im Bewusstsein ihrer Biographie erscheint Tess für Angel nun als eine völlig andere Person; sein Versuch, den "eigenen Familienroman" durch die narrative Vereinnahmung von Tess' "weiblicher Natur" zu konstruieren, scheitert - und damit zugleich die Lösung des Widerspruchs durch eine 'ideale Familiengeschichte', der "Übersetzung von Weiblichkeit in eine paternale Geschichte."

Von solchen und ähnlichen Erzählungen und Romanen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts handelt Walter Erharts umfangreiches Buch über den 'Ursprung moderner Männlichkeit'. Es verbindet das gegenwärtige Interesse an Geschlechtergeschichte mit grundlegenden Einsichten in die Wissenschafts- und Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts und eröffnet aus dieser Sicht einen theoretisch überzeugend legitimierten, genuin literaturwissenschaftlichen Zugang zum Problem der Entstehung der modernen Männlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert. Erhart versteht sein Buch als einen Beitrag zur "Geschichte der modernen männlichen Subjektivität", bei der gerade der Familie eine Schlüsselrolle zukomme: Als "Familienmänner" - so erklärt sich auch der Titel der Arbeit - würden Männer "zuerst überwiegend von Müttern erzogen"; später müssten sie "als Söhne oder Väter ihren Mann" stehen. Erhart fragt also nach der prozesshaften Konstitution von 'Männlichkeit', die sich in einer dynamischen Bewegung zwischen Ablösung von 'Weiblichkeit' und ihrer Aneignung für eine paternale Geschichte vollzieht. Der Fokus liegt daher folgerichtig auf der relationalen Konstruktion geschlechtlicher Identität - Fragen nach geschlechtsspezifischer Geschichte können nur als Fragen nach Geschlechter-Verhältnissen sinnvoll gestellt werden.

Dabei korrigiert Erhart einige in der Literaturwissenschaft vielfach immer noch gängige Klischees, etwa dasjenige von den "geschlechtsspezifisch getrennten Sphären von Öffentlichkeit und Privatheit" im 19. Jahrhundert oder von der weitgehend 'privaten', der Gesellschaft entzogenen Kleinfamilie. Die Familie nämlich sei ebenso wenig wie 'Männlichkeit' eine "biologische Tatsache oder eine gesellschaftlich festgelegte Institution, sondern eine kulturelle Erfindung, die sich erst nachträglich als naturgegeben oder als gesellschaftlich notwendig ausgibt, in ihrer Konstruiertheit jedoch nicht weniger, sondern eher größere Realität gewinnt." Die Studie rekonstruiert deshalb in einem umfangreichen ersten Teil zunächst das 'kulturelle Wissen' um den "modernen Entstehungszusammenhang von Familie, Geschlechterordnung und Männlichkeit" im 19. Jahrhundert - von Bachofens 'Mutterrecht' (1861) bis hin zur Medizingeschichte und entstehenden Psychoanalyse um 1900. Ein zweiter Teil 'Reichsgründer - Familiengründer' widmet sich dem deutschen 'Familienroman' am Ende des 19. Jahrhunderts (Theodor Fontane, Gustav Freytag, Wilhelm Raabe, Heinrich Mann). In der Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 sieht Erhart eine entscheidende Zäsur, in deren Folge die Bedeutungen von 'Familie', 'Männlichkeit' und 'Bürgerlichkeit' unsicher werden und die narrative Zusammenführung in einer Erzählung deutscher 'Familiengründer' vielfach scheitert. Der dritte Teil schließlich handelt von den 'Transformationen' des Familienromans um 1900 (u.a. Ricarda Huch, Herman Bang, Leopold Andrian, Richard Beer-Hofmann). Was sich schon in den gründerzeitlichen Romanen als Problem abgezeichnet hatte, die Integration von 'Weiblichkeit' und 'Männlichkeit' in eine (paternale) Geschichte, scheitert nun endgültig. Die Erzählungen vom Ende und Untergang von Familien (Thomas Manns "Buddenbrooks") lassen dabei die "Einzelbilder von Mutter und Vater" stärker hervortreten, als "abgespaltene Geschlechter-Figurationen" verändern sie die Formen modernen Erzählens tiefgreifend und bilden andersartige Formen der Integration in eine kohärente Erzählung aus - sei es durch "Geschichten männlicher Initiation" bei Beer-Hofmann, sei es durch die Freud'sche Psychoanalyse, die zugleich ein neuartiges Modell narrativer Männlichkeit begründet, welches die problematisch gewordene "Macht der Väter" neu zu begründen versucht. Diesen Strang nimmt der abschließende vierte Teil, der über die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn handelt, wieder auf. Die Erzähltexte von Rilke ("Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge", 1910), Franz Werfel ("Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig", 1919) und André Gide ("Le retour de l'enfant prodigue", 1907) aktualisieren auf unterschiedliche Weise eine männliche Geschichte von Abschied, Aufbruch und Heimkehr, die am Beginn des 20. Jahrhunderts sogar als eine "Urszene männlicher Subjektivität" erscheint.

Ihre literaturwissenschaftliche Relevanz gewinnt die Studie vor allem dadurch, dass der Verfasser immer wieder auf die "narrative Struktur" von 'Männlichkeit' hinweist: 'Männlichkeit' wird im System der Geschlechterordnung anders gefasst als 'Weiblichkeit', nämlich in den Kategorien von Zeit, Geschichte und Erzählung. "Die kulturelle und soziale Konstruktion von Männlichkeit besteht zumeist darin, den ihr entgegengesetzten Ort der Weiblichkeit in ein bestimmtes Verhältnis zu einer männlichen Erzählung zu setzen und dabei - psychoanalytisch formuliert - immer von neuem als Ort der Mutter in eine Geschichte des Vaters zu verwandeln." Eben diese paternalistische Geste führen die Heiratspläne Angels in Thomas Hardys Roman vor. 'Männlichkeit' konstituiert sich also in Erzählungen, die als Text, als Geschichte lesbar sind. Der private Binnenraum der Familie und die per se 'männlich' konnotierte Öffentlichkeit werden damit in einem höchst komplexen und kaum bruchlos miteinander zu vermittelnden Modell verbunden. Die ausführlichen Einzelanalysen deutschsprachiger Erzähltexte aus dem späten 19. Jahrhundert und der Zeit um 1900 - sie bilden den Großteil der Studie - führen solche Konfigurationen vor: Etwa Theodor Fontanes umfangreicher historischer Roman "Vor dem Sturm" (1878), der auf vielfache Weise die Oppositionen von 'weiblicher Poesie' und 'männlicher Gründerzeit', 'Geschichtsroman' und 'Familienroman' im Erzählverlauf durchspielt. Im Falle Fontanes gelangt Erhart zu einer Interpretation des Romans, die erstmals überzeugend die komplexe Figurenkonstellation zu deuten vermag und damit einen entscheidenden Fortschritt in der - ohnehin nicht knappen - Fontane-Forschung markiert.

Die Geschichte der 'Männlichkeit' wird also - im Unterschied zu 'Weiblichkeit' - meist "in Form von Familiengeschichten" beschrieben, manifest etwa in den unzähligen 'Familienromanen' des 19. und 20. Jahrhunderts. Dahinter steckt - der Untertitel der Arbeit übt sich hier ein wenig in der Kunst der Tiefstapelei - nicht nur eine Theorie über den Ursprung moderner 'Männlichkeit', sondern nichts weniger als eine Theorie der literarischen Moderne, die durch eine Verknüpfung von "Geschlechter-Theorie" und "Geschlechter-Geschichte" mit einem Erzählmodell begründet wird: Der moderne Roman entsteht demnach "durch ein verändertes Erzählen über Familie" und hebt sich damit in charakteristischer Weise von den auf 'Individualität' abzielenden Bildungsroman-Konzepten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts ab.

Kritisch wäre allenfalls anzumerken, dass die Frage nach 'Männlichkeiten' kaum diskutiert wird. Der Titel des Buches signalisiert eine monolithische Auffassung von 'Männlichkeit', auch wenn Erhart durchaus verschiedene Erzählmuster gelingender und misslingender Männlichkeits-Konstitution herausarbeitet - während in der gegenwärtigen Männlichkeitsforschung eher die Pluralität unterschiedlicher, z.T. konkurrierender Männlichkeiten betont wird. In diesem Zusammenhang wäre beispielsweise an Narrationen soldatischer 'Männlichkeit' zu denken, wie sie etwa von Ute Frevert herausgearbeitet worden sind.

Erharts Studie ist nicht nur ein gewichtiger Beitrag zur Erforschung der Erzählliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Sie führt - auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau, das die Lektüre nicht immer einfach macht - zugleich modellhaft vor, wie eine von new historicism, gender studies und Wissenschaftsgeschichte belehrte Literaturwissenschaft künftig aussehen könnte. Das Buch, ursprünglich eine Göttinger Habilitationsschrift aus dem Jahre 1996 und danach noch vielfach überarbeitet, zeigt außerdem, welch zentralen Anteil am wissenschaftlichen Fortschritt Qualifikationsarbeiten in den Geistes- und Kulturwissenschaften, anderslautenden Feststellungen von Seiten der Politik zum Trotz, haben. Ob wir künftig solche Bücher noch oft zu lesen bekommen, bleibe dahingestellt.

Titelbild

Walter Erhart: Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit.
Wilhelm Fink Verlag, München 2001.
463 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 377053557X

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