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Michel Houellebecqs Aggressivität zieht Kreise

Von Thomas HermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Hermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit einem leicht lüsternen Gesichtsausdruck stellte die Moderatorin einer Kultursendung eines öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders die Frage, wieviel von Houellebecqs Protagonisten Houellebecq sei und wieviel nur Houellebecqs Erfindungsgabe. Einem gelernten Literaturwissenschaftler sticht es, so gefragt, zwar die Nackenhaare durch den Pullunder, doch im Fernsehen ist derlei schon einmal möglich.

Unbestritten dürfte sein, dass die ausgeklügelte Selbstinszenierung wesentlich zum Erfolg des Franzosen beigetragen hat. Er verwischt bewusst die Spuren zwischen dem schreibenden Michel und den Michels, über die er schreibt. Diese Unschärfe wird auch zur Vermarktung der Houellebecqs eingesetzt.

Im Leben, so heißt es, zählt der erste Eindruck. Das gilt auch für Bücher. Den ersten Eindruck eines Buches erhält man durch den Umschlag. Auf der Schutzhülle um "Ausweitung der Kampfzone" blinken einem bunte Männchen von Bruce Naumann entgegen. Wenn man genauer hinsieht bemerkt man, dass diese Figuren nicht nur in poppigem Neon leuchten, sondern in Neon poppen. Das ist schon mal toll, das könnte den Betrachter dazu animieren, das Büchlein in die Hand zu nehmen und vielleicht ein wenig darin herumzublättern, weil wenn schon Sex vorne drauf ist, ist eventuell auch Geschlechtsverkehr drin. In dieser Hinsicht jedoch wird der Betrachter, der auf die Leuchtreklame hereingefallen ist und sich das Buch gekauft hat, enttäuscht. Diese Enttäuschung aber macht Sinn. Michels psychische Deformation resultiert aus dem Mangel an befriedigenden sozialen Kontakten. Die Diskrepanz zwischen der allgegenwärtigen Körperlichkeit und dem eigenen Unvermögen zu körperlicher Nähe schwingt die Hauptperson aufs Fahrrad zur finalen Etappe einer persönlichen Tour der Leiden.

"Ausweitung der Kampfzone" hat trockenen Humor, souveräne Selbstironie und spielt mit Elementen der Selbstreflexivität. Houellebecq braucht in seinem ersten Roman keine großen Katastrophen und keine groben Provokationen. Ganz nebenher schiebt er feine Nadeln ins nackte Fleisch der Gegenwart.

Nach seinem ersten Streich war Houellebecq kein schreibender Informatiker mehr. Er war jetzt ein Autor mit einem vielduskierten Erstling. Er musste nachlegen, und der zweite Roman ist wahrscheinlich der schwerste. Houellebecq trickste. Mit "Elementarteilchen" schrieb er einfach zwei Bücher in einem. Wieder ist ein Michel die Hauptfigur, doch sein Halbbruder Bruno hat das, was Michel und Tisserand in "Ausweitung der Kampfzone" nicht hatten: Sex. Michel No. 2 ist der hochbegabte Außerirdische, der ohne Bezug zur Realität in seiner Welt der naturwissenschaftlichen Abstraktionen vegetiert. Bruno ist dessen kindheitsgeschädigter Gegenpart der in Ansätzen glücklich sein darf. Glücklich sein heißt bei Houellebecq, ein erfüllendes Geschlechtsleben genießen zu können, mit einer Frau gesegnet zu sein, die ihrem Mann die triebhaften Wünsche von den traurigen Augen abliest und sogleich in die befriedigende Tat umsetzt. Doch Christiane muss sich umbringen und Bruno wird verrückt. Michels Weibchen stirbt auch. Aber er ist ja nicht von dieser Welt, wird nicht verrückt, sondern zieht nach Irland. Wo wohnt eigentlich Houellebecq?

Der Schutzumschlag zu "Elementarteilchen" reflektiert das Buch übrigens auf geradezu geniale Weise und folgt einer einfachen Strategie: Man nehme ein Foto des Autors aus "Les Inrockuptibles", auf dem er den Betrachter zufrieden rauchend anblickt, schneide es sauber in der Mitte durch und pappe es so vorne drauf, dass der halbe Autor doppelt glücklich auf den Betrachter schaut. Man wirbt bewusst mit der Figur Houellebecq. Jetzt kennt man ihn, jetzt weiss man, wie er aussieht. Um "Plattform" wickelte man aus diesem Grund einfach ein verträumtes Großprofil in schwarzweiß. So, wie sich der Autor durch die gezielten Provokationen in seinen Werken ins Gespräch bringt, so lässt er auch kaum eine Gelegenheit aus, seine Bücher durch wohlportionierte, gesellschaftsverachtende Granaten skandalnudelnd unters Volk zu bringen. Er ist nun kein Autor mehr mit einem vieldiskutierten Frühwerk, sondern mutiert Stück für Stück zu einer Art schlechtem Gewissen der westlichen Welt. Ein Glücksfall für alle, die etwas verkaufen wollen, auf dem sein Name steht oder sein Foto prangt.

Der dritte Roman ist wahrscheinlich der schwierigste. Nach den ersten beiden Büchern, mit denen man so nebenbei zu einem der meistbesprochenen Schriftstellern der Gegenwart wurde, ist der Erfolgsdruck groß. Houellebecq trickste. Warum sollte etwas, was schon einmal erfolgreich war, nicht noch einmal Erfolg haben? In "Ausweitung der Kampfzone" heißt es: "Die Romanform ist nicht geschaffen, um die Indifferenz oder das Nichts zu beschreiben; man müsste eine plattere Ausdrucksweise erfinden, eine knappere, ödere Form." In "Elementarteilchen": "Überhaupt sind Männer unfähig, Liebe zu empfinden, das ist ein Gefühl, das ihnen völlig fremd ist. Sie kennen nur Begierde, sexuelle Begierde der niedersten Art." Über beides lässt sich streiten, über das erste mehr, über das zweite weniger. Beide Zitate kann man zu einem Buch kombinieren: "Plattform".

Des dritten Michels Vater wird hingemordet. Michel jettet mit dem Erbschaftserlös nach Bangkok und Umgebung. Während des Fluges murmelt er einmal: "Gute Nacht, Taliban, gute Nacht... träumt was Schönes..." Irritiert fragt man sich, wieso Air France nach Bangkok über Kuba fliegt, bis man an die Zeitverschiebung denkt. Im fernen Osten ergeht Michel sich dann in Begierden niederster Art. Er lernt kurz vor der Heimkehr Valérie kennen. Zurück in Paris wird's was mit ihr, und die Beziehung gleicht verdächtig der zwischen Christine und Bruno. Valérie ist Tourismusmanagerin und muss mit ihrem Chef ein neues Cluburlaubkonzept basteln. Michel hat die rettende Idee: Er definiert den Begriff des "all inclusive" neu. Die Urlauber bekommen für ihr Geld nicht nur Unterkunft und Essen, sondern auch erotische Kontakte zu gut gebauten Exoten, über deren Vorzüge in dieser Hinsicht schon mehrfach philosophiert wurde. "Dein Freund ist wirklich ein Genie", sagt der Chef zu Valérie. Alles klappt hervorragend. Bis ein kleiner Anschlag (Zeitverschiebung) die ganze Geschichte ins Wanken bringt. Die Drei sind zur Einweihung eines neuen Hotels auf die thailändische Insel Krabi gereist. Ein Trupp Terroristen stürmt den Strand, schießt wild um sich und jagt eine Bar in die Luft. Valérie verblutet effektvoll in Michels Armen. Michel wird verrückt und beginnt zu schreiben.

Die "Neue Zürcher Zeitung" schrieb am 15. Februar zu "Plattform": "Mit Rezensionen des neuen Buches haben sich, ausgenommen die "taz" und die "Zeit", die grossen deutschen Blätter bislang zurückgehalten." Das ist mittlerweile überholt. Am 16. Februar besprach Richard Kämmerlings den Roman für die "F.A.Z." und verglich ihn mit Albert Camus' "Der Fremde". Für die "Zeit" zog Feuilletonchef Jens Jessen eine Linie zwischen Houellebecq und Joris-Karl Huysmans. Die "SZ" verfolgte die Abwartetaktik. Erst mal schaun, was die anderen so sagen. Am 21. Februar äusserte sich schließlich Julia Enke und meinte prompt: "Für ,Plattform' müssen nun Huysmans und - wegen eines eines einzigen Satzes ­ auch Camus herhalten. (Anmerkung: am 7. Februar stellte "SZ"-Literaturchef Thomas Steinfeld folgende Frage an Houellebecq: "Victor Hugo war im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert ein Held, ein Held einer intellektuellen Öffentlichkeit, einer, auf den sich die intellektuelle Energie eines ganzen Landes konzentrierte. Kommen Sie sich manchmal auch so vor, mehr als hundert Jahre später?") Auf diese Weise kann man sicher sein, dass man über Literatur spricht."

Auf diese Weise kann man auch sicher sein, dass über Konkurrenzkämpfe zwischen überregionalen Tageszeitungen gesprochen wird. Houellebecqs Strategie der auflagentreibenden Aggressivität zieht Kreise.

Julia Enke übrigens empfiehlt "Plattform" als Bettlektüre. Sie hat wahrscheinlich auch das Interview mit Houellebecq gesehen, das dem lüsternen Lächeln der eingangs erwähnten Frau aus dem Fernsehen folgte. Dabei räkelt sich der Autor rauchend auf den ausgeleierten Laken einer durchgelegenen Schlafstatt in einem billigen Hotel in Paris. Auf Gespräche mit dem Autor nach seinem nächsten Roman darf man gespannt sein. Vielleicht führt er es in einer Minderjährigen, und die ankündigende Dame leckt sich in Strapsen über die vollen Lippen. Die deutschen Feuilletons werden ihn nicht mehr besprechen. Weil keiner damit anfängt.

Titelbild

Michel Houellebecq: Plattform. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Ulrich Wittmann.
DuMont Buchverlag, Köln 2002.
338 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3832156305

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