Traumhafte Sinnesreize

Joris-Karls Huysmans' "Zuflucht"

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Traumhafte Sinnesreize

Joris-Karls Huysmans' "Zuflucht"

Von Thomas Hermann

Jacques Marles ist fast bankrott. Seine Frau Louise leidet an einer nicht zu diagnostizierenden Krankheit. Krämpfe schütteln ihren Körper, heftigste Schmerzen durchstechen ihren Leib. Kein Arzt weiß Rat. Um die Anfälle zu lindern und Geld zu sparen, reist das Paar aufs Land. Antoine, ihr Onkel, verwaltet ein verfallenes Schloss in der französischen Provinz. Dort vermietet er den beiden ein Zimmer, das ihm gar nicht gehört. Jacques ist frustriert. Dem erbärmlichen Zustand seiner Frau begegnet er mit einer Mischung aus Anteilnahme und Abscheu. Die naturverbundene Lebensweise des Bauern Antoine und dessen Frau Norine verachtet er, so wie ihm der gesamte Aufenthalt inmitten von Viehzucht und Ackerbau zutiefst zuwider ist.

In Paris war Jacques ein Dilettant im alten Wortsinn: Er erging sich in nutzlosen Studien und vergrub sich in wissenschaftlicher Literatur. Sein Forschen war ohne Sinn. Es trieb ihn die Lust am Wissen und die Freude am Verstehen. Er war ruhelos und geistig hochaktiv.

Jetzt herrschen stattdessen Langeweile und Leere und ausweglose Untätigkeit vor. Doch sein Hirn schenkt ihm Abwechslung. Jacques träumt. Drei Träume und deren Deutung geben dem Protagonisten Beschäftigung und strukturieren den Roman. Huysmans schildert die Auswürfe von Jacques' Unterbewusstsein in synästhetischen Wortorgien und kontrastiert dadurch die nicht weniger faszinierende Darstellung der ruralen Ödnis.

Die erste nachtschlafene Episode führt Jacques ins Alte Testament. Vor ihm vollzieht sich in eleganter Erotik die Begegnung von Artaxerxes und Ester: "In diesem Licht zeichneten die Personen sich deutlicher ab, nahmen die Konturen der Bibelerinnerungen an und wurden kenntlich: der schweigsame König auf der Suche nach einer Brunst, Esther, die zwölf Monate lang in Essenzen ausgelaugt worden war, in Öle getunkt, in Puder gerollt und von Hegais, dem Eunuchen, nackt zum Brautbett, zur Erlösung eines Volkes, geleitet wurde."

Ein andermal entschwinden der Träumende und seine Frau zu einem Ausflug zum Mond, und man glaubt, einen Vorentwurf zu Georges Méliès Film "Le Voyage Dans La Lune" vor sich zu haben: "In diesem Moment begann ein ungewöhnliches Schauspiel vor ihren Augen abzulaufen. So weit man sehen konnte ein aufgewühltes, völlig lautloses Meer, über das turmhohe, in der Bewegung erstarrte Wellen rollten. Überall speichelsprühende versteinerte Schaumzungen, gemeißelte Lawinen, ein sprachloses brausendes Donnern, eine sturmzerfurchte Regungslosigkeit, von einer einzigen Geste in bleiernen Schlaf gebannt."

Die letzte Episode schließlich mündet in einem bizarren Panoptikum skurriler Gestalten. Jacques begegnet einer stinkenden Schlampe mit schwarzem, zahnlosem Maul und flammenzüngelndem Haar - der Wahrheit: "Wie schlaff sie aussieht! Gewiß, sie ist seit Jahrhunderten durch die Hände so vieler Männer gegangen! Nun also, was Wunder! Ist die Wahrheit nicht etwa die große Hure des Geistes, die Straßendirne der Seele? Gott allein weiß, mit wie vielen erstbesten Hergelaufenen sie es seit der Schöpfung getrieben hat! Künstler und Päpste, Bettler und Könige, alle hatten sie besessen, und jeder von ihnen war überzeugt, sie sei ausschließlich in seinem Besitz, und kam beim geringsten Zweifel mit Argumenten, die mundtot machten, mit todsicheren, ausschlaggebenden Beweisen daher."

Könnte man Huysmans Fantasiegebilde riechen, man röche unzählige Essenzen, die Skala würde reichen von Ekel erregendem Gestank bis zu berauschendem Duft. Könnte man seine Darstellungen schmecken, man müsste spucken oder schmatzen. Würde man seine Schilderungen hören, man wäre umwabert von einer Mixtur aus Kako- und Symphonie. Der Autor erschafft vor den Augen seiner Leser Bilder bis ins Detail. Huysmans berührt alle Sinne.

Er skizzierte 1886 surrealistische Szenarien weit vor den Surrealisten, er thematisierte die Traumdeutung zehn Jahre vor Freud.

Anders als in seinen Nachfolgeromanen "Gegen den Strich" oder "Die Kathedrale", in denen sich die Helden Des Esseintes und Durtal bewusst vom Leben in Paris abwenden, wird Jacques durch die geschilderten Umstände zum Leben in der Abgeschiedenheit gezwungen. Des Esseintes und Durtal sind reine Kunstfiguren, "Zuflucht" jedoch ist stark autobiographisch geprägt: den August 1885 verbringt Huysmans mit seiner Lebensgefährtin Anna Meunier im Schloss von Lourps, dem Schauplatz des Romans. Anna laboriert bereits an einem rätselhaften Gebrechen und wird daran zehn Jahre später sterben.

Was mit Louise geschieht, erfährt man nicht. Während des Aufenthaltes aber verschlechtert sich ihr Zustand, denn das Ehepaar Marles sieht sich immerwährenden, bis zum Psychoterror reichenden Anfeindungen durch die Landbevölkerung ausgesetzt. Sie werden betrogen, wo es nur geht, die Bauern Antoine und Norine bereichern sich an den beiden. Die eingefahrenen Sitten der Provinzler und deren Hochmut zehren an den Nerven von Jacques und seiner Frau. Nach abstoßenden Erlebnissen mit kalbenden Kühen, Zuchtbullen, Insektenplagen, wollüstigen Verwandten, Hitzeperioden und dem - intensiv und eindringlich geschilderten - jämmerlichen Verrecken eines alten Katers, entschließen sich die beiden zur Flucht vor der Flucht. Beweint von den Alten reisen sie zurück nach Paris. Die Tränen trocknen rasch im Fahrtwind auf dem Eselskarren. Louise ließ dem krepierenden Kater ihren Unterrock zum weicheren Dahinscheiden zurück, und das Textil muss nun schnell vor den Krallen des Viehs gerettet werden.

Joris-Karl Huysmans: Zuflucht.

Übersetzt aus dem Französischen von Michael Kleeberg.

Herausgegeben von Ulla Momm.

Manholt Verlag, Bremen 1998.

194 Seiten, 22,00 EUR.

ISBN 3-924903-22-0


Titelbild

Joris-Karl Huysmans: Zuflucht.
Übersetzt aus dem Französischen von Michael Kleeberg.
Manholt Verlag, bremen 1998.
196 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3924903220

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