Ethik der Gesetzlosigkeit

Chantal Gahlinger über die weibliche Selbstwerdung im Werk von Lou Andreas-Salomé

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie sich inzwischen selbst bei den orthodoxesten und unnachgiebigsten Freudianern herumgesprochen haben dürfte, wurde ihre Profession im Fin de Siècle nicht nur vom altehrwürdigen Meister und einigen ihn umgebenden Herren aus der Taufe gehoben. Nein, die Psychoanalyse, der seinerzeit ebenso wie heute alles andere als unumstrittene Sprössling innovativer Geister des angehenden 20. Jahrhunderts, erfreut sich auch einer stattlichen Anzahl von Müttern. Zu ihnen zählt nicht zuletzt die russische Literatin Lou Andreas-Salomé. Anna Freud sollte später mit ebenso großer Be- wie Verwunderung schwärmen, sie habe in ihrem Nietzsche-Buch von 1894 (vgl. literaturkritik.de 9/2000) die Psychoanalyse vorweggenommen.

Nun liegt eine ebenso umfangreiche wie gründliche Studie zur weiblichen Entwicklungspsychologie im literarischen Werk Salomés vor, dessen Umfang (und Qualität) den Vergleich mit ihrem wissenschaftlichen und essayistischen Schaffen nicht zu scheuen braucht. Ziel der von der Germanistin und Philosophin Chantal Gahlinger verfassten Untersuchung ist es, "das wenig bekannte Werk einer bekannten Frau" vorzustellen, vor allem aber anhand der meist weiblichen Romanfiguren Salomés "mögliche erfolgreiche und weniger erfolgreiche Wege" der Frauen und gelegentlich auch der Männer "auf dem Weg zur Individuation", so wie deren Schöpferin ihn verstand, aufzuzeigen. Gahlinger beleuchtet nur diese eine Dimension von Salomés literarischem Œuvre, doch diese leuchtet sie bis ins kleinste Detail aus.

Ästhetische Kriterien spielen für die Untersuchung dagegen ebenso wenig eine Rolle wie die literarische Qualität der untersuchten Romane und Novellen. Doch dies muss - für den angestrebten Zweck - kein Manko sein. Im Gegenteil. Etwas störend wirkt hingegen, dass die Autorin weitgehend Salomés sprachliche Eigentümlichkeiten übernimmt und sie sich gelegentlich in Hinweisen auf Parallelstellen und korrespondierenden Auffassungen bei Nietzsche, Schopenhauer, Thomas Mann und etlichen anderen bis hin zu Popper und Heidegger verliert.

Als besonders gelungen darf allerdings der Aufbau der Arbeit gelten, der sich nicht etwa an der chronologischen Entstehungsgeschichte der untersuchten Werke orientiert, sondern "am biologischen Alter der Protagonistinnen und Protagonisten bzw. an deren entwicklungspsychologischem Stand", beginnend beim "primären Narzismus" in der "frühen Kindheit" über "Verlusterlebnisse" und "Einheitserfahrungen" in der Pubertät bis hin zu "Strategien der Identitätsfindung" im "Erwachsenenleben". Hierbei werden in den einzelnen Abschnitten des Buches jeweils zunächst Salomés theoretische Auffassungen bezüglich des entwicklungspsychologischen Stadiums dargelegt, wie sie sich aus deren nichtfiktionalen Texten ergeben. Sodann wird Salomés Auffassung anhand der Figuren ihrer literarischen Werke exemplifiziert. Dieses fast ein wenig starre, aber äußerst sinnvolle Schema wird erst bei der Behandlung des Erwachsenenalters durchbrochen, da sich nun die Entwicklungsmöglichkeiten und -strategien (und deren Scheitern) zunehmend ausdifferenzieren.

Der Weg zur gelungenen Ausbildung eines 'Selbst', so weist die Autorin nach, vollzieht sich bei Salomé "in praktisch allen Fällen" in einem "Drei-Schritt-Modell", das "in dialektischer Entwicklung von der narzisstischen Einheit zum Verlust dieser Einheit übergeht, der darauf in erneute[r] Einheit mündet". Die erste Phase dieses Entwicklungsmodells, die "ursprüngliche Einheit" entspricht dem "primären Narzissmus". Die zweite Phase ist durch den "Verlust dieser Einheit" geprägt. Die dritte Phase schließlich ermöglicht die "Wiederannäherung an die ursprüngliche Einheit auf neuer Ebene". Das entscheidende Moment der Entwicklung ist das "Verlusterlebnis" als zentrale, die eigentliche Entwicklung "initiierende" Erfahrung. Es verursacht den zur Ich-Konstitution notwendigen Schmerz. Ziel der Entwicklung ist ein "autonome[s] Ich" das "durch verstandesmässiges und bewusstes Aufgeben aller äusseren, durch Gesellschaft, Moral oder Sitte vermittelten Sicherheiten erlangt" werden könne. Salomés "autonomes Ich" zeichnet sich durch eine "Ethik der Gesetzlosigkeit" aus, die auf der "eigenen inneren Ethik" beruht. Diese kann ihrerseits allerdings erst "wirkkräftig" werden, "nachdem vorgängig die ewigen Gesetzestafeln zerbrochen worden sind". Frauen hätten zwar "oft mehr Ursache" sich "dem traditionell Geltenden" zu unterwerfen als der Mann, aber sie hegten eine "viel tiefer verborgene Verachtung" dafür. Daher erlangten sie die wahre Autonomie der Ethik der Gesetzlosigkeit leichter.

Titelbild

Chantal Gahlinger: Der Weg zur weiblichen Autonomie. Zur Psychologie der Selbstwerdung im literarischen Werk von Lou Andreas-Salomé.
Peter Lang Verlag, Bern 2001.
494 Seiten, 63,40 EUR.
ISBN-10: 3906766764

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