Zitat, Montage und Ernüchterung

Katharina Ebrecht setzt Heiner Müllers Gedichte in Beziehung zu Quellen und Vorbildern

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Sommer 1996 hatte Katharina Ebrecht die Gelegenheit, den damals noch nicht ins Archiv überführten Nachlass Heiner Müllers für ihre Heidelberger Staatsexamensarbeit durchzusehen. Die zwischenzeitlich zur Dissertation ausgebaute Arbeit zu Müllers Lyrik ist nun als Buch erschienen.

Verglichen mit seinem dramatischen Werk ist das lyrische Schaffen Heiner Müllers noch kaum literaturwissenschaftlich gewürdigt worden. Daran hat bislang auch die Publikation der gesammelten Gedichte im ersten Band der neuen Werk-Ausgabe im Suhrkamp Verlag 1998 nichts geändert. Das ist insofern bedauerlich, als sich Müller seit Mitte der 60er Jahre zu einem hervorragenden Gedichte-Schreiber entwickelte. Als Brecht-Epigone begann er, doch zuletzt hatte er mit seiner Lyrik ein Qualitäts-Niveau erreicht, das ihm einen Platz gleichberechtigt neben dem früher nachgeahmten Meister sichert: "Ungeheuer oben", um einmal Marcel Reich-Ranickis Urteil über Brechts Lyrik zu zitieren.

Wie für die allermeisten anderen Texte auch gilt für Müllers lyrische Produktion, dass sie kaum einmal Erlebtes unmittelbar in Dichtung umsetzt, sondern dass Dichtung in beständigem Bezug auf, durch Bearbeitung von oder in Auseinandersetzung mit literarischen oder sonstigen Prätexten entstand. Dies erzwingt bei der Analyse ein intertextuelles Verfahren. Ebrecht ist sich dessen bewusst, hält aber betont Abstand von avancierten Theoretikern der Intertextualität. Vielmehr versucht sie, Anregungen der Intertextualitätsdebatte vorsichtig in ihren, wie sie es nennt: "traditionalistischen, hermeneutisch orientierten Ansatz" zu integrieren, wobei in der Analyse eindeutig produktionsästhetische Fragestellungen im Vordergrund stehen.

Methodisch ist die vorliegende Untersuchung sicher nicht innovativ zu nennen. Dies ist für eine grundlegende Arbeit, die sich erstmals in extenso mit dem lyrischen Werk befasst, vielleicht aber auch kein Nachteil. Wo ein Anfang zu machen ist, wären weitreichende intertextuelle Spekulationen - und dazu lassen sich viele Forscher unter dem selbst auferlegten Zwang zu Originalität häufig verleiten - fehl am Platz. Ebrechts Untersuchung aber ist ein solcher Anfang, und sie ist bis auf Weiteres für jede weitere Arbeit über Müllers Lyrik eine unverzichtbare Grundlage.

Unverzichtbar ist diese Dissertation schon deshalb, weil Katharina Ebrecht auf Grund ihrer intimen Kenntnis des Materials, also des hand- und maschinenschriftlichen Nachlasses, der Vollständigkeit versprechenden und Zuverlässigkeit suggerierenden Edition der Gedichte innerhalb der Werk-Ausgabe verschiedene, darunter auch einige schwerwiegende Fehler oder Lässigkeiten nachweisen kann. So fehlen in der Werkausgabe aus unklaren Gründen über dreißig Gedichte, die Ebrecht als abgeschlossen qualifizierte (fünf davon werden in der vorliegenden Dissertation erstmals vollständig mitgeteilt); dafür enthält die Ausgabe sogar zwei Texte, die gar nicht von Müller stammen. Es gibt in der Ausgabe eine Reihe von auch sinnentstellenden Druck- oder Herstellungsfehlern, die nicht gerade für Lektorat und Korrektur sprechen. Und in den editorischen bzw. bibliographischen Notizen (einmal abgesehen davon, dass sie verschiedene, aber unbedeutendere Irrtümer enthalten) wird mit Platz bzw. Information derart gegeizt, dass gutgläubige Benutzer der Werkausgabe unwillentlich irren müssen. Zum Beispiel bewunderte Heinrich Detering in einem Artikel angesichts der "nachmals florierenden Rede von der Intertextualität" des Dichters erstaunlich frühe Erkenntnis der "Wahrheit / Daß du nur ein Zitat bist". Laut Werk-Ausgabe stammt das zitierte Gedicht aus den 50er Jahren; Ebrecht macht indessen auf Grund ihrer Kenntnis des Archivmaterials glaubhaft, dass nur die ersten beiden Zeilen des Gedichts aus den 50er Jahren stammen, die entscheidenden von Detering zitierten Verse aber aus "den 80er Jahren, als die 'Rede von der Intertextualität' schon in aller Munde war". Aber woher hätte Detering das wissen sollen?

Was uns Ebrechts Arbeit also mindestens lehren kann, ist die höchste Vorsicht im Umgang mit Texten eines Autors, der sich bis zuletzt nicht scheute, die ältesten Entwürfe als Material für neueste Erkenntnisse zu nutzen. Gerade bei Müller gilt, dass alle seine Texte immer nur als 'work in progress' zu betrachten sind, was eigentlich ganz neuartige Editionsformen notwendig machen würde; und eine extrem vorsichtige Interpretationspraxis, solange es diese neuartige Edition noch nicht gibt.

Ebrechts Leistung besteht natürlich nicht nur in der notwendigen Kritik einer Werkausgabe, die einen Autor gleichsam mit schnellstrickender Nadel kanonisieren will, weil man befürchtet, dass er aus der Mode kommen könnte. (Wofür in Müllers Fall wahrhaftig kein Anlass zur Beunruhigung bestehen sollte.) Vielmehr verspricht sie ja eine grundlegende Revision des lyrischen Werks überhaupt.

Hier gibt es meines Erachtens allerdings einige Defizite anzumelden. Die große Leistung von Ebrechts Untersuchung ist, die frühe Lyrik Müllers ernst genommen zu haben. Sie stellt uns relativ genau die Brecht-Bezüge in seinen Kinder- oder Aufbau-Liedern oder in den von chinesischen Urbildern ausgehenden Gedichten vor. Ausgerechnet aber die intertextuellen Verwicklungen in der Umbruchsphase der 60er und 70er Jahre beschweigt Ebrecht. Aus der aufregendsten Phase von Müllers Lyrik, nämlich dem inzwischen wohl so zu nennenden Spätwerk der 90er Jahre, stellt sie uns nur die beiden Langgedichte "Mommsens Block" und "Ajax zum Beispiel" vor. Gerade weil es sich bei diesen Gedichten weniger um lyrische Ergüsse als um Selbstverständigungen "politisch-poetologischen Inhalts" handelt, hätte man sich mehr gewünscht. Die Erkenntnis, dass hier durchgehend "zitiert, komprimiert und paraphrasiert" würde, ist jedenfalls zu wenig. Interessanter wäre, warum, wie genau und mit welchem Ergebnis dies geschieht.

Dass Müller in seinen späten Gedichten "wider alle historische Vernunft" an der "Hoffnung auf den wahren Sozialismus festgehalten" hätte, ist billige Polemik und stimmt außerdem nicht. Einen Kritiker wie Gustav Seibt als Stütze der Argumentation aufzurufen, verkennt die Situation. Seibt feierte damals in der F.A.Z. "Mommsens Block" als Epitaph der DDR-Literatur und zugleich als Anfang einer neuen, gesamtdeutschen Dichtung.

Den neuen Anfang nimmt Ebrecht nicht wahr. Vielmehr versucht sie die beiden Langgedichte "als Ausdruck eines melancholischen und posthistorischen Lebensgefühls" zu lesen, als Reflexion der "Schwierigkeiten des Autors beim Schreiben in einer Gesellschaft, die im Posthistoire angekommen" sei. Mir scheint indessen, dass Müller schon in den 70er Jahren das Gefühl hatte, nicht nur im Westen würden die Menschen um ihre Geschichte betrogen, sondern auch im Osten. Deswegen verabschiedete er in "Hamletmaschine" bereits das Modell des Shakespeare'schen "Hamlet", den er ein "Endspiel in der Morgenröte eines unbekannten Tags" nannte: "Der Morgen findet nicht mehr statt". "Mein Drama findet nicht mehr statt. [...] Mein Drama hat nicht stattgefunden", beklagt sich der Hamletdarsteller: Es findet und fand nicht mehr statt, weil die Geschichte still gestellt worden war. In seinen Gedichten der 90er Jahre indessen versuchte Müller einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, und meines Erachtens fand er ihn auch. Insofern könnte und sollte man sie vielleicht eher als Ausdruck des Bemühens lesen, sich aus der lähmenden Situation des Posthistoire zu befreien. Sie einsinnig auf eine negative Aussage hin zu lesen, scheint mir nicht fruchtbar, und vielleicht rächt sich hier, die vielen anderen Gedichte der Zeit außen vor gelassen zu haben.

Die Untersuchung der frühen Gedichte hingegen fördert manch interessante Erkenntnis zu Tage. Mit der Beschreibung der Art, wie Müller sein Quellenmaterial in eigenen Texten benutzt und verdichtet hat, vermag Ebrecht dessen Schreibpraxis zu erhellen. Sie führt im Einzelnen vor, wie Müllers Montage- und Zitattechnik die Vorlagen einer 'Ausnüchterung' unterzieht, die der poetischen Wirkung entschieden zugute kommt. Dieser Blick in die Werkstatt eines großen Autors macht klar, warum gerade dessen kärgste Gebilde für manche jungen Dichter heute ungeheuer anregend wirken.

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Katharina Ebrecht: Heiner Müllers Lyrik. Quellen und Vorbilder.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2001.
242 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3826020553

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