Klaus-Peter Möllers Edition von Fontanes "Stechlin"

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Was ist denn nun eigentlich der Stechlin? Wer die Stechline sind, das scheint klar - Dubslav, Woldemar, Tante Adelheid, nach der Hochzeit auch Armgard und, wenn man großzügig sein will, vielleicht auch ein wenig die andern Figuren, die der Autor um diese Adelsfamilie gruppiert. Aber der Stechlin, das ist keiner von ihnen, sondern etwas anderes, sie alle betreffendes, etwas, das zwischen ihnen und der Welt vermittelt, denn "vor allem sollen wir, wie der Stechlin uns lehrt, den großen Zusammenhang der Dinge nie vergessen." Fontane hat sich sicher nicht träumen lassen, wie nahe uns heute, 100 Jahre später, solche Gedanken sein können. Und was hat es zu bedeuten, dass Melusine, Armgards Schwester, nach dem Willen des Romanciers das letzte Wort behält. In einem Brief an den Pfarrer Lorenzen, mit dem sie ein konspiratives Bündnis à la Turmgesellschaft geschlossen hat, schreibt sie: "Morgen früh zieht das junge Paar in das alte Herrenhaus ein, meine Schwester und mein Schwager. Erinnern Sie sich bei der Gelegenheit unsres in den Weihnachtstagen geschlossenen Paktes: es ist nicht nötig, daß die Stechline weiterleben, aber es lebe der Stechlin." Mit diesem Orakelspruch endet Fontanes letzter Roman - für die Interpreten seit seinem Erscheinen eine Herausforderung. Mit dem soeben vom Aufbau-Verlag vorgelegten Band der Großen Brandenburger Ausgabe (einer auf 75 Bände konzipierten Gesamtausgabe, die gegenwärtig in mehreren Reihen erscheint) wird dem Streit um den Stechlin neue Nahrung gegeben. Nicht nur der interpretatorische Ansatz ist neu (Abschaffung des alten Prinzips der Erbfolge, trotz aller Sympathie für den "Adel im Untergang" oder doch einiger herausragender Exemplare dieser politisch, ökonomisch und moralisch degenerierten gesellschaftlichen Klasse und Einsetzung eines neuen Prinzips: der Verantwortungsfähigkeit), auch im ca. 250 Seiten umfassenden Kommentar werden Interpreten und anspruchsvollen Lesern zahlreiche Novitäten vermittelt. Überraschend, wie viel Neues nach über 100 Jahren Stechlin-Interpretation und -Edition noch zu entdecken ist.

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Titelbild

Theodor Fontane: Der Stechlin. Roman.
Herausgegeben von Klaus-Peter Möller.
Aufbau Verlag, Berlin 2001.
715 Seiten, 30,60 EUR.
ISBN-10: 3351031297

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