Im Meer der weit verzweigten Interessen

Biografisches zu Siegfried Kracauer von Momme Brodersen

Von Blanka StolzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Blanka Stolz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Siegfried Kracauer - der "wunderliche Realist", wie Adorno ihn nannte - war nicht nur Romancier, Feuilletonist, Architekt und Filmwissenschaftler, sondern auch Außenseiter, Autodidakt und Seiteneinsteiger. Er und sein ebenso vielseitiges Werk werden in einer neuen Monographie kompakt dargestellt.

Der 1889 in Frankfurt a. M. geborene Siegfried Kracauer wendet sich nach seiner Ausbildung zum Architekten in Darmstadt, Berlin und München, journalistischen und schriftstellerischen Arbeiten zu. Das Schreiben wird ihm zur Passion werden und ihn sein Leben lang begleiten. Neben dem autobiografisch gefärbten Roman "Ginster. Von ihm selbst geschrieben" (1928) und dem Roman "Georg" (1934), in dem er ein Panorama der Weimarer Gesellschaft zeichnet, entstehen in den Jahren um den ersten Weltkrieg und der Zwischenkriegszeit zahlreiche Artikel, Rezensionen, Porträts, Essays, Denkbilder und Abhandlungen, in denen sich auch seine Bekanntschaft und Begegnungen mit Persönlichkeiten der deutschen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts wie Ernst Bloch, Walter Benjamin, Leo Löwenthal, Franz Rosenzweig, Martin Buber, Max Scheler, Margarete Susman oder Georg Simmels niederschlagen.

Schon während seines Architekturstudiums in Berlin besucht Kracauer Vorlesungen des Soziologen Georg Simmels, der weit reichenden Einfluss auf sein Denken haben und für ihn zum Mentor wird. So interessiert sich Kracauer zunehmend für soziologische Zusammenhänge, wobei große philosophische und erkenntnistheoretische Überlegungen schnell in den Hintergrund treten. Kracauer findet seine Themen an den Orten und Plätzen der kleinen Leute, die er während seiner Zeit als Reporter in Berlin für die "Frankfurter Zeitung" kennengelernt hat - in den Lichtspielhäusern, den Stehbars, in Revuen, auf den Arbeitsämtern, bei Sportereignissen, auf dem Jahrmarkt oder der Operette. Seine Gesellschaftsanalysen der Weimarer Republik - wie beispielsweise in "Das Ornament der Masse" (1927) oder in "Die Angestellten" (1929/30) - folgen seinem außergewöhnlichen Wirklichkeitszugang, dem Alltäglichen und dem Nichtbeobachteten besonderen Wert beizumessen. Hier entwickelt er seine Methode, den Grundgehalt einer Epoche an den unscheinbaren Oberflächenerscheinungen abzulesen, die er auch in späteren Werken fortführen wird. Aus den zufülligen Zeichen und Phänomen der Populärkultur, versucht er das Wesen einer neuen Gesellschaft zu diagnostizieren.

Mit seiner Exilierung im Dritten Reich 1933verliert Kracauer das Feld seiner alltäglichen Beobachtungen; in der zweiten Phase seines Schaffens in Paris und ab 1941 in New York, wo er 1966 stirbt, wendet er sich verstärkt einem ihm bereits vertrauten Ort zu: dem Kino.

In seiner Filmkritik, die er, so Adorno, auf ein neues Niveau gehoben habe, entwickelt Kracauer Bausteine für seine zwei großen, in Englisch verfassten Filmbücher - 1947 "From Caligari to Hitler" und 1960 "Theory of Film". Der Film hat für Kracauer genau die Oberflächendimension des Alltäglichen, "Entwirklichten, Niedrigen", in der besonders deutlich die Vorstellungen des Lebens für Kracauer fassbar sind. Seine Absicht, in "From Caligari to Hitler" nicht nur die Geschichte des deutschen Films oder das Medium Film isoliert zu betrachten, beruht auf der These, die Mittelschichten-Mentalität (der Deutschen) sei anfällig für die Verführungskraft der Medien. Weiterhin habe sich der deutsche Film aus der Einsicht der Politiker und Militärs des Ersten Weltkrieges entwickelt, die deutsche Propaganda sei der der alliierten Feinde unterlegen. Dies sollte die letzte Publikation Kracauers zu einem spezifisch deutschen Thema sein; der Bruch mit Deutschland seit seinem Exil ist nicht mehr rückgängig zu machen.

In seiner "Theory of Film" legt Kracauer ein Standardwerk zur Geschichte, Soziologie und Ästhetik des Films vor. Er stellt die Frage nach den "Grundeigentümlichkeiten des Films" schlechthin und bewegt sich in seiner Beschreibung zwischen ästhetischen Problemen und zeitgenössischen, kulturellen Funktionen des Films - laut Rudolf Arnheim, "wahrscheinlich das intelligenteste Buch zum Thema Film, da je geschrieben worden ist".

Sein letztes Projekt "Geschichte - vor den letzten Dingen" muss unvollendet bleiben.

Leider bringt Momme Brodersen keine Einschätzung über Kracauers bleibende Aktualität, die nicht nur in seiner Ablehnung großer, einheitlicher Gedankensysteme, sondern vielmehr in seiner Neigung und seinem Staunen über Randzonen der hohen Kultur liegen könnte, und welchen Beitrag sein Werk zur heutigen Diskussion einer Pop(ulär)-Kultur leisten könnte. Auch unterlässt er beispielsweise zu hinterfragen in wie weit Kracauer mit seiner These vom Ursprung der Kultur aus dem Geist des Krieges als Vorläufer der französischen Kulturtheorie der Poststrukturalisten eines Jean Baudrillards gesehen werden kann.

In der Vielseitigkeit Kracauers und eben im "Meer seiner weit verzweigten Interessen" liegt das Problem eine knappe, übersichtliche Biografie über Siegfried Kracauer zusammenzustellen. Momme Brodersen ist es trotzdem größtenteils gelungen, das breite Spektrum und den interdisziplinären Zugang Kracauers sowie die dazugehörende Zeitgeschichte beispielhaft, aber anschaulich darzustellen. Überall dort, wo die rororo-Monographien-Reihe zu Kürze und Überschaubarkeit drängt, entschädigt das gewohnt umfangreiche Bild- und Fotomaterial, eine Zeittafel, Zeugnisse und eine Auswahlbiografie sowie die modernisierte Erscheinungsform der Reihe, die eine Zeitleiste zur Orientierung am oberen Seitenrand und farblich abgesetzte Zitate bietet.

Titelbild

Momme Brodersen: Siegfried Kracauer. Monographie.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2001.
158 Seiten, 8,60 EUR.
ISBN-10: 349950510X

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