Havanna und die Einsamkeit

Mirta Yáñez über das Leben in einer ziemlich großen Stadt

Von Mischa GayringRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mischa Gayring

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Havanna ist eine ziemlich große Stadt. Jedenfalls sagt das meine Mama, die viel von diesen Dingen versteht." Mit diesen Worten beginnt Mirta Yáñez eine ihrer Geschichten, die - wie die meisten ihrer Erzählungen - von den Sorgen und Ängsten der kleinen Leuten handelt. "Havanna ist eine ziemlich große Stadt" wiederholt das Kind die Worte der Mutter, und weiß zu berichten, "daß ein Kind sich für immer in ihr verlaufen kann." Und dass es gut möglich sei, "daß zwei Menschen sich jahrelang suchen können, ohne sich je zu finden." Dass es der Autorin hierbei vor allem um die Perspektive - nämlich die eines Kindes - geht, ist offensichtlich. Dass sie diese aber gebraucht, um die Geschichte auf ein ganz bestimmtes Moment zu lenken, ist dabei eine ganz besondere Qualität nicht nur dieses, sondern all ihrer Texte.

Und wenn sie ihre Figuren agieren lässt, so beschreibt sie nicht nur das vergangene, sondern auch immer das aktuelle Leben in Kuba. Sie zeigt, wie die Menschen - vor allem aber die Frauen - um ihre Bedürfnisse und Träume ringen. Der kleine Junge, der sich nie sehr weit von zu Hause entfernt, weil er Angst hat, nicht mehr zurück zu finden; das junge Mädchen, das im viel zu kalten Moskau umherirrt, weil sie sich verlaufen hat; die zwei kleinen Kinder, die beschließen, von zu Hause abzuhauen. Die immer wiederkehrenden Motive des Umherirrens und des sich Verlaufens, die Kälte und das Alleinsein, das immer wieder in den Erzählungen thematisiert wird, deuten auf ein Hauptinteresse Yáñez': Dem Überlebenskampf des Einzelnen in den Institutionen einer geschlossenen Gesellschaft.

Beispielsweise ihre wohl bekannteste Erzählung, "Der Blinde Büffel". In ihr schildert die Autorin in mehreren Zeitblenden den Entwicklungsweg einer jungen Frau von der Kindheit in einem verschlafenen Nest in der Provinz Camagüey von der Zeit vor der Revolution bis zu einer verantwortungsvollen Tätigkeit in Havanna nach 1959. Das Traumziel Havanna wird aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Eine Münze mit dem Bild eines blinden Büffels von scheinbar unschätzbarem Wert bildet das Leitmotiv. Ob sich darin eine Parallele zu erträumten und enttäuschten Erwartungen der Revolution sehen lässt?

Knapp und poetisch verbindet die Autorin Einzelschicksale mit historischen Ereignissen und literarischen Motiven. Liebevoll nimmt sie die Tücken des Alltags aufs Korn, um die Stimmungen und Gefühle der kleinen Leute wiederzugeben. Die hohe Schule der Andeutungskunst und der unverwechselbare Ton, der dank Mechthild Blumberg auch im Deutschen spürbar bleibt, macht "Havanna" zu einem einzigartigen Lesevergnügen. Die Geschichten der Mirta Yáñez sind so herzergreifend, so merkwürdig und schrecklich zugleich, dass man nur hoffen kann, dass diese großartige Schriftstellerin, die im vergangenen Jahr während der Leipziger Buchmesse den Förderpreis der Initiative LiBeraturpreis erhielt, endlich auch in Deutschland die Aufmerksamkeit erhält, die sie verdient und die ihr in anderen Ländern bereits geschenkt wird.

Und als der Vater nach Hause kommt und unversehrt zurückkehrt, weiß auch das Kind: Havanna ist zwar eine ziemlich große Stadt, aber so groß dann doch wieder nicht, dass man sich für immer in ihr verlaufen könnte.

Titelbild

Mirta Yanez: Havanna ist eine ziemlich große Stadt. Kubanische Erzählungen.
Übersetzt aus dem Spanischen von Mechthild Blumberg.
Atlantik Verlag, bremen 2001.
131 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3926529296

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