Überlebensakrobaten

Cornelia von Schelling und Ann-Christine Wöhrl porträtieren die "Frauen von Havanna"

Von Bettina AlbrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bettina Albrecht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Buch von Frauen über Frauen? Und seien es auch kubanische: Das liest doch keiner - außer Frauen und ein paar Männern, die sich für besonders fortschrittlich halten, vielleicht. Schade eigentlich, denn vom Einfallsreichtum und der Kraft der stolzen Frauen von Havanna könnten wir Europäer uns eine Scheibe abschneiden. Wenn wir davon wüssten.

Die in Lateinamerika aufgewachsene Autorin Cornelia von Schelling zeichnet Porträts von vierzehn ungewöhnlichen Frauen, die ihr Leben in dem morbiden Havanna aufs Unterschiedlichste meistern. Von der jungen Rapperin Mágia, die das Elend heraussingt, das sie tagtäglich in ihrem Wohnhaus erlebt, einem Solar, in dem es für gut 30 Bewohner ein einziges Klo, eine Dusche und eine Kochstelle gibt, bis zu der 82-jährigen Großmutter und Musikerin Angela, die nachts als Diva im bodenlangen Rock, mit roten Lippen, glitzernden Ohrringen und tiefschwarz nachgezogenen Augenbrauen auftritt. Da sie nie einen bezahlten Beruf ausgeübt hat, bekommt Angela keinen Pfennig Rente.

Ob Jinetera (weniger wohlklingend: Prostituierte) oder Lehrerin: Experten im Sparen, Improvisieren und Sich-Durchwursteln sind sie alle. Inventar, sich etwas einfallen lassen, heißt das Zauberwort - auch wenn die Zeiten, in denen die Menschen stundenlang Schlange standen, um ein mit Zwiebeln in Öl gebratenes Steak aus Putzlumpen zu ergattern, vorbei sind. Doch auch eine Frau, die keine materielle Not, kein Schlangestehen, keine Existenzängste kennt, findet Erwähnung. Die Ballett-Tänzerin Anissa ist Tochter eines Botschafters. Castro sitzt in der Ehrenloge, als sie beim "Festival del Ballet" den Sterbenden Schwan tanzt.

Vierzehnmal kubanische Wirklichkeit, die sich für Touristen gewöhnlich hinter einer surrealen Kulisse aus Musik, Tanz und karibischer Lebenslust versteckt. Schelling ist sich glücklicherweise bewusst, dass auch ihr Blick immer der einer Fremden ist: "Um diese Insel zu verstehen, hay que vivir la - muss man sie leben", zitiert sie die Schriftstellerin Elvira. Besonders befremdend wirken auf Autorin wie Leser die Rituale des Yoruba-Kultes. In einer sieben Tage und Nächte dauernden exzessiven Zeremonie werden neue Gläubige in die Religionsgemeinschaft aufgenommen, mit der sich über die Hälfte der Einwohner der Provinz Havanna verbunden fühlt. Unmengen an Federvieh und Ziegen wird in dieser Woche der Garaus gemacht. Während der Rest im Topf landet, werden die Köpfe der Tiere zu den neuen Glaubensmitgliedern gebracht. Die Innereien sämtlicher Hühner werden mit Wucht gegen die Wand geklatscht. Dort bleiben sie kleben, bis das Aufnahmeritual beendet ist. Ein Ziegenbock wird bei lebendigem Leibe kastriert. Der Gott Oshún verlangt das Opfer eines ,reinen' Ziegenbockes.

Auch wenn Schelling hinterfragt, was ihr zu Protokoll gegeben wird, und ihre spannenden und informativen Porträts nie zu überschwänglich geraten, bewahrt sie stets den nötigen Respekt. Sie will nicht verurteilen, was sie nicht verstehen kann. So zum Beispiel die Starallüren der Primaballerina des Tropicana namens Lupe, die Schelling immer wieder versetzte und warten ließ. Und erst recht nicht die Parolen der Revolutionärin Debora, der wohl treuesten Companera ganz Kubas. Einzig und allein die kubanischen Männer verleiten Schelling zu entschiedenen und harten Urteilen. So auch der Freund der aufopferungsvollen Hausärztin Marta, der diese wegen einer reichen Venezolanerin verlässt. Oder der Vater der Jinetera Rosalinda. Sie war im sechsten Monat schwanger, als er die damals 15-Jährige vor die Wahl stellte, entweder abzutreiben oder rausgeschmissen zu werden. Die Autorin kann und will ihre Wut hier nicht unterdrücken.

Manchmal scheinen sich Schellings Beobachtungen zu widersprechen: "Die Kubaner mögen staunenswerte Daseinskünstler sein, aber in ihrem Liebesleben erleiden sie Schiffbruch. Die Beziehungen sind noch brüchiger, noch kurzlebiger als anderswo", erklärt sie. Aber: "Auf dieser Insel, auf der nach wie vor Mangel und Unsicherheit herrschen, sind Sex und Liebe wie ein unverwüstliches Bekenntnis zum Leben, und der Zusammenhalt in der Familie bietet ein trotziges Bollwerk gegen das tägliche Chaos. Wenigstens die Liebe kann von niemandem rationiert werden." Facetten der Wirklichkeit.

So aufschlussreich Schellings Texte auch sind: Sie können nicht viel mehr sein als nützliche Erklärungen zu den ausdrucksstarken Schwarz-Weiß-Fotografien von Ann-Christine Wöhrl, die schnell zu Appetithappen für den bereits von ihr veröffentlichten Fotoband "Habanos Mi Amor" werden. Treffsicher spürt sie genau diesen einen bestimmten Moment auf, in dem sich die Lebensgeschichte, die Sorgen, Wünsche und Träume ihres Modells zu offenbaren scheinen. Diesen einen Moment, der mitten aus dem Leben gegriffen ist und uns vielleicht verstehen macht, was Schellings Texte nur beschreiben können. Wie so oft sagt hier ein Bild mehr als tausend Worte.

Titelbild

Cornelia von Schelling: Die Frauen von Havanna. 14 aussergewöhnliche Lebensberichte.
Frederking & Thaler Verlag, München 2001.
192 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3894054158

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