Weltfrömmigkeit

In einem sorgfältig editierten Sammelband: Goethe und der Pietismus

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als der 81-jährige Goethe Anfang Mai 1830 Karl August Varnhagen von Enses Biographie über den Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf las, fühlte er sich an seine Kindheit und Jugendzeit erinnert, in der christliches Leben und herrnhutische Frömmigkeit ihn tief beeindruckt hatten, und er notierte in sein Tagebuch: "Mir besonders willkommen, da es mir die Träume und Legenden meiner Jugend wieder vorführt und auffrischt." Der Einfluss der damaligen Frömmigkeitsbewegungen auf den angehenden Dichter kam nicht von ungefähr, war doch der Protestantismus seiner Zeit, wie Goethe im ersten Buch seiner 1811 erschienenen Autobiographie schrieb, "eigentlich nur eine Art trockener Moral" gewesen. "Deswegen ergaben sich", so Goethe, "mancherley Absonderungen von der gesetzlichen Kirche. Es entstanden die Separatisten, Pietisten, Herrnhuter, die Stillen im Lande [...], die [...] die Absicht hatten, sich der Gottheit, besonders durch Christum, mehr zu nähern, als es ihnen unter der Form der öffentlichen Religion möglich zu seyn schien. Der Knabe hörte von diesen Meinungen und Gesinnungen unaufhörlich sprechen."

Offenbar waren die pietistischen Gedanken bei Goethe auf fruchtbaren Boden gefallen, da er in seiner Kindheit und Jugend eine ausgesprochene religiöse Neigung hatte. Er wuchs auch in einem protestantischen Elternhaus auf, in dem die Geistlichkeit der Stadt verkehrte. Die naive Frömmigkeit der Mutter und der regelmäßige Religionsunterricht, den Goethe durch private Hebräischstunden vertiefte, taten das ihrige. Zudem regten ihn die biblischen Geschichten schon früh zu eigenen dichterischen Versuchen an.

Als der Neunzehnjährige im Winter 1768/69 krank von Leipzig nach Frankfurt zurückkehrte, geriet er vorübergehend unter den Einfluss der Herrnhuter Frömmigkeit. Obwohl er allem Anschein nach kein Pietist geworden ist, war er mit der Brüdergemeinde eng vertraut. Er besuchte häufig die Herrnhuter, bei denen Susanna Katharina von Klettenberg den Ton angab und bekannte sogar in einem seiner Briefe, dass ihn der Heiland "endlich erhascht" habe. Goethe ist zu jener Zeit vielen Menschen begegnet, die von pietistischer Frömmigkeit erfüllt waren: Dem Arzt Johann Friedrich Metz, der ihn zusammen mit Susanna Katharina von Klettenberg in die Geheimnisse der Alchemie einführte, die bei den radikalen Pietisten eine recht verbreitete Rolle spielten; ferner Johann Heinrich Jung-Stilling, Johann Kaspar Lavater der zwar kein Pietist, aber ein bizarrer Christ war und Zinzendorfs Nachfolger August Gottlieb Spangenberg in Marienborn.

Aber die pietistische Phase fand in Goethes späterem Leben keine Fortsetzung. Ein Jahr nach dem Tod von Susanna Katharina von Klettenberg am 16. Dezember 1774 und seiner Übersiedlung nach Weimar endete Goethes unbeschwerter, von dichterischer Produktion bestimmter Frankfurter Lebensabschnitt. Die damals mit dem Theaterspiel verbundene höfische Welt in Weimar bedeutete die Abkehr von der religiösen Gefühlswelt seiner Jugend und die Hinwendung zu einem unruhigen Leben gesellschaftlicher Verpflichtungen. Gleichwohl nahm Goethe das Streben und die Suche nach einer höheren Wahrheit in seinem dichterischen Hauptwerk wieder auf und entwickelte aus der Begegnung mit dem Pietismus zinzendorfscher Prägung in Verbindung mit christlichen Grundüberzeugungen eine Art Weltfrömmigkeit, die er selbst als seine Privatreligion bezeichnet hat.

Wie sehr für den Dichterfürsten der Pietismus ein anregendes Erlebnis seiner Jugend war, das er in seinem Gedächtnis bis in sein hohes Alters bewahrt hat, zeigen die Dokumente und Texte in dem von Paul Raabe herausgegebenen Sammelband.

Der frühere Bibliotheksleiter des Deutschen Literaturarchivs Marbach, der heute die Franckeschen Stiftungen in Halle leitet und 1999 die Goethe-Ausstellung "Separatisten, Pietisten, Herrnhuter" und ihr Katalogbuch gestaltete, hat die Texte nicht nur sorgfältig zusammengestellt, sondern auch vorzüglich kommentiert und dazu ein sachkundiges Nachwort geschrieben.

Den Sammelband eröffnen ein kurzer Brief an Cornelia Goethe vom 12. Oktober 1767 und die in Frankfurt vor 1765 unter dem Einfluss der Lektüre von Klopstocks Messias entstandenen "Poetischen Gedanken über die Höllenfahrt Christi".

Das schönste und wichtigste Zeugnis für Goethes religiöse Jugendphase ist zweifellos der hier ebenfalls abgedruckte "Brief des Pastors *** an den neuen Pastor zu ***", der in der Terminologie der Brüdergemeinde unter der Maske eines Landgeistlichen an einen neuen Amtsbruder abgefasst wurde und den berühmt gewordenen Ausruf enthält:"Welche Wonne ist es zu denken, dass der Türke, der mich für einen Hund, und der Jude, der mich für ein Schwein hält, sich einst freuen werden, meine Brüder zu sein." Der Brief wendet sich gegen Fanatismus und wirbt für Nachsicht, Verständigung, Toleranz und warme Herzensfrömmigkeit, die von der Liebe zu Gott und den Menschen getragen ist. Darüber hinaus wehrt sich Goethe in diesem Text gegen die Lehre von der Erbsünde und richtet seine Gedanken gegen jede Form einengender Dogmatik. "Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen" lauten: "Was stand auf den Tafeln des Bunds?" und: "Was heißt mit Zungen reden?".

Die Sammlung enthält außerdem Briefe, Tagebuchblätter und Verse, in denen Goethes Beziehungen zu den Stillen im Lande, meistens in Andeutungen, zum Ausdruck kommen. Auch in anderen Werken, insbesondere im "Faust", in "Wilhelm Meisters Lehrjahre" und "Dichtung und Wahrheit", aus denen einzelne Passagen in den Band mit aufgenommen wurden, finden sich manche Spuren, die des Dichters Kenntnis pietistischer Frömmigkeit und pietistischen Alltagslebens deutlich bekunden.

Titelbild

Johann Wolfgang von Goethe: Träume und Legenden meiner Jugend.
Herausgegeben von Paul Raabe.
Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2000.
239 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3374017886

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