Diskutiert wird, bis der Genosse die richtige Meinung hat

Martin Sabrows Studie über die DDR-Geschichtswissenschaft

Von Philipp StelzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Stelzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Bewertung der Geschichtswissenschaft in der DDR unterlag sowohl während ihrer Existenz als auch nach dem Zusammenbruch des Arbeiter- und Bauernstaates starken Schwankungen. In Westdeutschland sah man bis Mitte der sechziger Jahre in den ostdeutschen Historikern lediglich politisch gesteuerte Pseudowissenschaftler. Danach galt, bis 1989 in zunehmendem Maße, dass die DDR-Historie in - je nach Epoche und Gegenstand - unterschiedlicher Weise instrumentalisiert war und zumindest in einigen Bereichen akzeptable Forschungsergebnisse produzierte. Nach der Wende trat dann vor allem der Hinweis auf das moralische Versagen der Historiker in den Vordergrund, wohingegen die großteils "abgewickelten" Wissenschaftler mit ihrer Verteidigung gegen ihre vermeintliche Kollektivschuld in die Defensive gerieten.

Ohne der primär auf die persönliche Schuld des einzelnen Historikers abzielenden Argumentation ihre Berechtigung abzusprechen, hält Martin Sabrow doch eine mehr analytische als moralisierende Herangehensweise für erkenntnisfördernder. Dies bedeutet jedoch keineswegs eine Rückkehr zum systemimmanenten Interpretationsansatz, der die DDR an ihren eigenen Ansprüchen messen wollte und daher oft als wertrelativistisch abgelehnt wurde. Vielmehr geht es dem Potsdamer Historiker aus heuristischen Gründen zunächst um eine Rekonstruktion der Funktionsmechanismen und Kommunikationsregeln in der ostdeutschen Geschichtswissenschaft. Die Übertragung westlicher Maßstäbe auf den Untersuchungsgegenstand diene zwar der Bewertung, behindere aber die Analyse. Die Studie, Sabrows Habilitationsschrift, beleuchtet die Periode zwischen 1949 und 1969, als sich das Fach erst etablierte und dann konsolidierte. In ihrem Mittelpunkt steht die Frage, inwieweit die sozialistische Historiographie trotz aller politischen Vorgaben nach internationalen Standards ausgerichtet war. Sabrows Hypothese lautet, dass die DDR-Geschichtswissenschaft weniger äußerlich instrumentalisiert wurde als sich vielmehr innerlich zu einer politisch-funktionalen Wissenschaft wandelte.

Die Etablierung der sozialistischen Historiographie war ein langer und mühsamer Prozess, der erst Ende der fünfziger Jahre als abgeschlossen gelten konnte. Obwohl die erdrückende Mehrheit der Historiker fest auf marxistisch-leninistischem Boden stand, traten zwischen ihnen nicht selten grundlegende inhaltliche Differenzen zutage. Besonders drastisch zeigte sich dies bei der Diskussion über den Abschnitt 1918 - 1945 des "Lehrbuchs der deutschen Geschichte", einem zwölfbändigen Werk, das das wichtigste der geschichtswissenschaftlichen Kollektivvorhaben in der DDR darstellte. Wissenschaftsorganisatorische Konflikte und persönliche Animositäten zwischen den führenden Historikern erschwerten ebenfalls die Realisierung der von Anfang an postulierten Einheit. Dass man ihr jedoch Ende der fünfziger Jahre zumindest ein gutes Stück näher gekommen war, lag in erster Linie an Ernst Engelberg. Dieser vermochte als Vorsitzender der Historiker-Gesellschaft (dem Gegenstück zum westdeutschen Historikerverband) sowie wenig später als Direktor des beständig expandierenden Instituts für Geschichte bei der Akademie der Wissenschaften seine Führungsposition immer weiter auszubauen. Engelberg, der sich in den achtziger Jahren durch seine Bismarck-Biographie auch in der Bundesrepublik Respekt erwerben sollte, erwies sich dabei in jeder Hinsicht als Hardliner, nach innen intrigant und repressiv, nach außen streng auf Abschottung (besonders gegenüber den westdeutschen Fachkollegen) bedacht. Wenngleich die vollständige inhaltliche Homogenität nicht erreicht werden konnte, so setzte er sich mit seiner Linie durch, jegliche Kooperation mit BRD-Historikern einzustellen.

Diese Haltung wurde selbst dann nicht aufgegeben, als in der Bundesrepublik im Gefolge der Fischer-Kontroverse die alte nationalkonservative Orthodoxie um Gerhard Ritter zunehmend unter den Druck der aufsteigenden Historischen Sozialwissenschaft geriet. Während etwa Fritz Klein für einen Dialog mit jüngeren westdeutschen Historikern wie Immanuel Geiss oder Hans Mommsen plädierte, sah Engelberg darin eine große Gefahr, weil eine differenziertere Wahrnehmung zwangsläufig den Feindbildcharakter der westdeutschen Historie und somit die von ihm ausgehende integrative Wirkung auf die eigene "Zunft" abschwächen musste. Diese defensive Einstellung blieb während der sechziger Jahre für die DDR-Historiographie insgesamt bestimmend. Ebenso erfolglos verliefen zaghafte Vorstöße einiger jüngerer Wissenschaftler, zeitgeschichtliche Dogmen in Frage zu stellen. Wenn etwa Klein die Rolle der KPD in der Endphase der Weimarer Republik etwas kritischer bewertet wissen wollte oder der Faschismusforscher Günther Paulus Hitler nicht mehr ausschließlich als Werkzeug des Monopolkapitals deutete, hatte dies von Engelberg veranlasste Disziplinierungsmaßnahmen zur Folge. Die argumentative Hilflosigkeit der Hardliner veranschaulicht Sabrow durch ausführliche Zitate aus Diskussionsprotokollen. Besonders eindrucksvoll wirkt in dieser Hinsicht die Debatte um Jürgen Kuczynskis Interpretation von Parteilichkeit und Objektivität, in welcher der streng marxistisch-leninistisch argumentierende Arbeiterbewegungshistoriker monatelang zahlreiche Kollegen mit der - letztlich misslungenen - Widerlegung seiner Thesen beschäftigte. Deren Ziel, so vermerkt das Protokoll, war es dabei nicht, "den Genossen Kuczynski [argumentativ] zu erschlagen, sondern ihm zu helfen, dass es nur darum geht, ihm zu zeigen, wo er keine richtige Meinung hat".

Sabrows Urteil über seinen Untersuchungsgegenstand fällt sehr differenziert aus. Keinen Zweifel lässt er daran, dass die DDR-Geschichtswissenschaft "in ihrer verordneten und gewachsenen Struktur" eine funktionale Wissenschaft war, in der man mit einer rein empirischen Beweisführung gegen die Parteidogmen nichts ausrichten konnte. Andererseits gab es selbst in den zeithistorischen Tabuzonen "Kompromisshistoriker", die sich bemühten, sowohl die politischen als auch die (außerhalb der DDR gültigen) wissenschaftlichen Normen zu befolgen. Ob man freilich die Ergebnisse über die Geschichtswissenschaft hinaus auf die Gesamtgesellschaft übertragen kann, wie Sabrow in seinem Fazit andeutet, ist angesichts der wohl kaum gegebenen Repräsentativität der kleinen Gruppe systemnaher Historiker fraglich. An dem positiven Gesamturteil über die informative, nur streckenweise etwas mühsam zu lesende Studie ändert dies jedoch nichts.

Titelbild

Martin Sabrow: Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR 1949-1969.
Oldenbourg Verlag, München 2001.
488 Seiten, 44,80 EUR.
ISBN-10: 3486565591

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