Brandkugeln der Unzucht und Schlangenbisse der Seele

Ingelore Ebberfelds unterhaltsame Kulturgeschichte der wollüstigen Küsse

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"A kiss is just a kiss"? - Von wegen, Sam! Ein lustvoller Kuss, und nur von diesem ist hier die Rede, kann vieles sein: Etwa ein Liebesversprechen oder eine Liebeserklärung, ebenso kann er ein Vorgeschmack auf den geschlechtlichen Liebesakt, ja er kann dessen Inbegriff selbst sein, wie Ingelore Ebberfeld in ihrer "Geschichte der wollüstigen Küsse" zeigt. Mehr noch, ein Kuss kann intimer sein als der Geschlechtsakt. So vertraute etwa ein 38-jähriger Mann der Autorin an: "Ehrlich gesagt, mit dem Schwanz kannst du lügen, mit der Zunge nicht!" und eine Frau gestand ihr: "Wenn ich nicht ganz in Stimmung bin, kann ich schon mal mit meinem Mann schlafen, aber richtig leidenschaftlich küssen, das geht nicht."

Ebberfeld erörtert jedoch nicht nur die Wahrhaftigkeit des Kusses, sondern beleuchtet dessen Entstehungsgeschichte ebenso wie seine kulturelle Vielfalt und seinen durchaus nicht immer und jederzeit guten Leumund. "Zedlers Universal-Lexicon" unterrichtete seine gebildete Leserschaft im 18. Jahrhundert etwa darüber, dass "geile und unverschämte Huren-Küsse" - und als solche galten offenbar alle leidenschaftlichen Küsse - "nichts anderes als Brand-Kugeln der Unzucht und giftige Schlangen-Bisse der Seelen" seien, wohingegen Rudolf Kleinpaul 1888 zu der Metapher fand, ein Kuss "verkündige den heiligen Coitus wie Bethlehem der Komet". So unterschiedlich die Wertungen der gelehrten Herren auch ausgefallen sein mögen, eines ist ihnen, wie die Autorin feststellt, doch gemein: "Anstand und Sitte waren anscheinend oberstes Gebot". Ein Gebot, das über die Jahrhunderte hinweg überhaupt für die "Abfassung von Kussbüchern" galt.

Ebberfelds eigenes "Kussbuch" zeichnet sich hingegen durch einen leichten, stets unterhaltsamen und gelegentlich sogar amüsanten Ton aus, in dem sämtliche Variationen des erotischen Kusses erörtert werden bis hin zum "ungehörigste[n] aller Küsse", den "auf das Hinterteil", ohne dass die Autorin jemals Gefahr liefe, ins Schlüpfrige abzugleiten.

Doch widmet sich Ebberfeld nicht nur der Vielfalt erotischen Küssens, sondern ebenso der unterschiedlichen Bedeutung und Art des Küssens in verschiedenen Kulturen und seiner geschichtlichen Entwicklung. Der Kuss - sei es als Zungenkuss oder als dem 'eigentlichen' Kuss verwandtes Nasenreiben - scheint zwar ein fast ubiquitäres, jedoch nicht universales Phänomen, keine anthropologische Konstante zu sein.

Hinsichtlich seiner Entstehung herrscht über die Jahrhunderte hinweg unter den Gelehrten die größte Uneinigkeit, wie die Autorin zeigt. Gab vielleicht Eva Adam den ersten Kuss, indem sie ihm in Ermangelung eines Taschenmessers den abgebissenen Apfelschnitz mit dem Mund weiterreichte, oder waren es etwa die Gründer Roms, die mit der Zunge prüften, ob ihre Frauen verbotenerweise Wein getrunken hatten, indem sie ihre Lippen ableckten? Zwei Thesen, die vom 17. bis 19. Jahrhundert einige Anhänger fanden. Völlig anderer Auffassung ist hingegen der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt, der den Ursprung des Kusses in "Brutpflegehandlungen" ausmacht, während Psychoanalytiker wiederum der festen Überzeugung sind, er sei "nichts anderes als das Wiederbeleben des wohligen Gefühls, das mit dem Saugen an der Mutterbrust einherging". Die Autorin weist all diese, ebenso wie auch eine Reihe weiterer möglicher Ursprünge des wollüstigen Küssens als unplausibel zurück und lässt die Frage lieber offen. Allerdings scheint ihr die Auffassung Theodor H. van de Veldes noch am überzeugendsten, der zufolge der Kuss "entwicklungsgeschichtlich aus dem Sichbeschnüffeln der Tiere hervorgegangen" ist. Mit Sicherheit jedenfalls bilden Abbildungen auf Statuen oder auf Gebrauchs- und Ziergegenständen aus dem 3. vorchristlichen Jahrtausend die frühesten Belege von Küssen.

Mag auch die Genesis des Kusses im Dunkeln liegen, über eines lässt die Autorin keine Zweifel aufkommen: "Die Berührungen mit dem Mund verschaffen Lust und führen zur Luststeigerung. Das allein ist Sinn und Zweck des sexuellen Kusses."

Titelbild

Ingelore Ebberfeld: Küss mich. Eine unterhaltsame Geschichte der wollüstigen Küsse.
Ulrike Helmer Verlag, Königstein 2001.
251 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 389741080X

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