Unbedingter Aussagewille, Ohnmacht der Interpreten

Viel Verstreutes zur Dichtung Paul Celans im neuen Celan-Jahrbuch

Von Kim LandgrafRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kim Landgraf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Celan-Jahrbuch, das seit 1987 in unregelmäßiger Folge im Heidelberger Universitätsverlag C. Winter erscheint, war von Anfang an ein höchst ambitioniertes Unternehmen und hat sich als gewichtiges Publikationsorgan der internationalen Celan-Forschung längst etabliert. Hier sind Beiträge meist der bekanntesten Forscherinnen und Forscher versammelt, die sich die intensive Auseinandersetzung mit dem einzelnen Text und die punktuelle Vertiefung übergreifender Aspekte der Dichtung Paul Celans zum Ziel gesetzt haben, ohne daß jemals thematische oder methodische Vorgaben die Vielfalt der Ansätze und Inhalte eingeengt hätte. Dieses Projekt fortsetzend ist verspätet der siebte Band des Jahrbuchs erschienen, der in ebenso ambitionierter Form alte und neue Gesichtspunkte der unausgesetzt konzentrierten Diskussion um das Werk Celans aufgreift und damit den Stand der Forschung um vieles bereichert. Daß sich dieser Dialog nach wie vor nur vereinzelt zu überschaubarer Klarheit verdichtet, zeugt von der erhöhten Aufmerksamkeit und Sensibilität, die man im Falle Celans Werk und Person zuteil werden läßt. Es ist aber auch Anzeichen einer oft geradezu hilflosen Vorsicht, die den Anspruch der Dichtung mit dem der Literaturwissenschaft durcheinanderbringt, die dazu beigetragen hat, daß bislang keine tragfähige kategoriale Basis der diskursiven Verständigung gefunden wurde, und die demzufolge auf ein sprachlich-thematisches Ausnahmephänomen wie dem der Lyrik Paul Celans entweder mit vielfach überanstrengter Komplexität oder mit Sprachlosigkeit reagiert. Oft scheut man die Eindeutigkeit, die man bei Celan nicht findet, hat nicht den Mut zu streitbarer Bestimmtheit und läßt, was die Gedichte im Grunde mit äußerster Präzision fassen, unausgesprochen oder in vager Andeutung verharren. Je länger die Beschäftigung mit Celan andauert und je mehr Dokumente zugänglich werden, desto greifbarer wird dieser Bruch zwischen dem unbedingten Aussagewillen auf seiten der Texte und der immer noch fehlenden Artikulationsfähigkeit seitens der Textinterpretation. Auch der vorliegende Band gibt davon ein deutliches Beispiel, indem viel Verstreutes sich doch nur - mehr oder minder erfolgreich - um eines bemüht: der Entscheidung des Schriftstellers "für das Wahre und Menschliche" (Brief Celans an Hans Werner Richter vom 26.1.1965) zu folgen und für die Freilegung der Realismen Paul Celans, die in den Gedichten der vielfachen Reduktion und komplexen Verwerfungen ausgesetzt sind, eine angemessene Sprache zu finden.

Den Auftakt des neuen Celan-Jahrbuchs bildet der Abdruck des Briefwechsels zwischen Paul Celan und seinem Jugendfreund Erich Einhorn: 16 Briefe, geschrieben zwischen 1944 und 1967, die an diesem Ort erstmals veröffentlicht werden und eine aufschlußreiche Ergänzung bisheriger Publikationen privater Zeugnisse darstellen. Grundlegende existentielle Erfahrungen wie die der Ermordung der Eltern, der Goll-Affäre, zunehmender Vereinsamung und "Zeltlosigkeit" (Rede zur Verleihung des Bremer Literaturpreises), aber auch äußere Vorgänge und Einsichten, die als Konzentrationspunkte, Daten, bei aller Entwicklung die Lyrik und Poetik Paul Celans nachhaltig prägen, haben hier ihre Spuren hinterlassen. Karge Eindringlichkeit kennzeichnet jene Passagen, in denen es um den Verlust der Heimat, die Trauer um ehemalige Freunde, die Sehnsucht nach anderer Wirklichkeit geht:"Vielleicht dürfen hier, für so vieles, diese paar Worte stehen: Alles ist nahe und unvergessen" (Paris, 24.4.1962). Die Nähe gilt für die Präsenz des Verlorenen und ebenso für das Verhältnis der Dichtung zur unmittelbar in sie eingehenden Wirklichkeit dessen, der schreibt: "Ich habe", sagt Celan, "nie eine Zeile geschrieben, die nicht mit meiner Existenz zu tun gehabt hätte - ich bin, Du siehst es, Realist, auf meine Weise" (Paris, 23.6.1962). Daß dieser spezielle Realismus zusätzlich an einen emphatischen Utopismus gekoppelt ist, der auf den Entwurf einer menschlicheren Wirklichkeit abzielt, macht jene Spannung erst aus, in die das Gedicht bei Celan gestellt ist. - Weitere Themen des Briefwechsels sind die Musik und Celans intensive Begegnung mit russischer Lyrik, namentlich Blok, Esenin und vor allem Mandelstam, deren Lektüre und Übersetzung die eigenen Arbeiten maßgeblich mitbestimmt haben. - Marina Dmitrieva-Einhorn hat sämtliche Briefe sehr gründlich kommentiert und mit einer ausführlichen Einleitung versehen, in der sie ihre Bedeutung für beide Korrespondenten herausstellt, längere Schriftpausen klärt und zahlreiche Spuren dieser anhaltenden Freundschaft in Celans Gedichten aufdeckt.

Weniger erhellend ist der Beitrag von Barbara Wiedemann, der ebenfalls ein bisher unbekanntes Dokument aus Celans Bukarester Zeit vorstellt. Es handelt sich um einen kurzen Artikel, der im März 1947 in der rumänischen Literaturzeitschrift "Revista literara" erschien und in dem der Autor Paul Ancel drei verschiedene zeitgenössische Beiträge zur russischen Literatur rezensiert. Ohne Zweifel eröffnet dieser Artikel einen weiteren Zugang zu Celans früher Beschäftigung mit dem Russischen. Die Schlußfolgerungen, die daraus für seinen Umgang mit Literatur und das eigene Schreiben (ohne tiefere Einbettung in den Kontext der Bukarester Jahre) gezogen werden können, sind allerdings dürftig und überschreiten das zu Erwartende kaum: Ancel scheine sich "auch als fühlende und leidende Person in diesen Text einzubringen", erweise sich hier "als ausgesprochen tendenziöser Leser". Nicht anders werden heute noch Hesse und Sartre mit 16 gelesen. Immerhin war Celan damals der einzige, der die von ihm zu behandelnden Aufsätze kritisch und nicht ohne Eigensinn aufnahm und darstellte.

Abgesehen von den wertvollen Einzelinterpretationen zu "Radix, Matrix" von Jean Bollack und Germinal Civikov, zu "Chymisch" und "Give the Word" von Klaus Manger und Rainer Lengeler und zu den Bildgedichten Paul Celans "Einkanter: Rembrandt", "Blitzgeschreckt" und "Unter ein Bild" von Werner Wögerbauer, die sich durch Kenntnisstand und Feingefühl auszeichnen und an denen das Sprachproblem des Interpreten nur indirekt insofern hervortritt, als hier jeder schreibt, wie er denkt, und das möglichst wohlklingend, ohne daß dabei zugrundegelegte Begrifflichkeit eigens geklärt würde, gruppiert sich die Mehrheit der übrigen Beiträge des Bandes um die Frage nach dem Verhältnis von Werk und Person Paul Celans zur bildenden Kunst und Musik und vor allem nach ihrem Verhältnis zu anderen Autoren des 20. Jahrhunderts (Rilke, Bachmann, Jelinek und Derek Walcott). Damit wird ein beliebtes Muster der Forschung erneuert, Komparatistik und Intertextualität werden in angewandte Literaturwissenschaft überführt.

Diese Vorgehensweise ist immer dort hilfreich, wo sie eingefahrene Denkmuster aufbricht und wo das Fremde, bislang Periphere den Blick auf den ursprünglichen Gegenstand produktiv stört, verjüngt und erweitert. Marlies Janz hat es in ihrem Beitrag zu Celan-Zitaten in Jelineks Stück "Stecken, Stab und Stangl" verstanden, den Wechsel der Perspektive für beide Autoren fruchtbar zu machen. Max Reithmann hingegen füllt Seite um Seite mit interessanten Bemerkungen zur inhärenten Poetik der Bilder Paul Klees, arbeitet ausführlich mit Freud und Derrida, wenn es um Wahrnehmung, Gedächtnis und Erinnerung geht, läßt Kabbala, Genesis, Goethe, ja sogar Runge und Beuys nicht aus, kommt aber an kaum einer Stelle dazu, dem erstaunten Leser zu sagen, was all das konkret mit Celan zu tun hat. Die Gefahr also, daß der vergleichende Ansatz vor lauter Entdeckerlust und unbehinderter Suche nach neuen Zusammenhängen den Autor selbst aus den Augen verliert und die immer noch notwendige Auseinandersetzung mit Celans eigenen Texten geradezu flieht, ist groß. Oftmals sind dann viele Worte nur Ausdruck der Sprachlosigkeit und Ohnmacht des Interpreten.

Titelbild

Hans-Michael Speier: Celan-Jahrbuch 7.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 1999.
362 Seiten, 85,90 EUR.
ISBN-10: 3825306402

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