Abschweifungen ins Fachchinesisch

Christian Schärf wagt sich an die "Geschichte des Essays"

Von Doris KleinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Doris Klein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon in der Einleitung zu seiner "Geschichte des Essays" weist Christian Schärf darauf hin, daß aus zwei Gründen Vollständigkeit - wie sie der Titel suggeriert - nicht zu erwarten sei. Zum einen liege das an der Überfülle des Materials und zum anderen an der unklaren Bestimmung dessen, was unter einem Essay zu verstehen ist.

In diesem Zusammenhang verweist er auf Ludwig Rohner, dessen 1966 erschienene Materialsammlung "Der deutsche Essay" gerade wegen der Fülle des verwendeten dokumentarischen Materials an seiner Aufgabe gescheitert sei: er spiegele lediglich die allgemeine definitorische Konfusion wider, statt sie aufzulösen. Ersetzen will Schärfs Band die Ansätze Rohners nicht, vielmehr möchte er einen anderen Umgang mit dem Thema Essay vorschlagen. Essay, Essayistik und Essayismus sollen nicht mehr als literarische Formen betrachtet werden, sondern als "Ausdrucksmomente einer produktiv-existentiellen Grundproblematik der Neuzeit." Dabei sucht er aufzuräumen mit der inzwischen inflationären Verwendung der Begriffe Essay und Essayismus, die zu bedeuten scheinen, daß jeder Schreiber sich an einem Thema "versuchen" kann, solange er sich zu seiner eigenen Subjektivität bekennt. Gerade in der öffentlichen Publizistik scheint jeder zugelassen zu sein, weil "künstlerische und wissenschaftliche Qualitätskriterien gleichermaßen außer Acht bleiben können".

Schärf will den Essayismus vielmehr im Musilschen Sinn als Geisteshaltung verstanden wissen, als "Experimentierfeld des Menschen ohne normatives Weltbild des sich selbst perspektivisch erforschenden Subjektes". Das ist allerdings eine Geisteshaltung, die nicht zwingend die literarische Form des Essays zum Ziel haben und die tendenziell die Grenze zwischen Leben und Literatur auflösen können muß, indem sie an die Stelle von Normativität eine subjektbezogene Produktivität setzt.

Schärf zeichnet die verwickelte Geschichte der Gattung wie auch dieses Syndroms nach von Montaigne bis Adorno, von der Renaissance bis zur Spätmoderne. Dabei erweist er sich als profunder Kenner der Werke dieser ausgewählten Essayisten der Literatur- und Geistesgeschichte und ihrer antiken Vorbilder.

Das Dilemma, in das Schärf sich begibt, besteht in der einerseits lamentablen Feststellung, daß der Essay als literarische Form am ehesten dadurch zu definieren sei, daß er sich nicht eigne für eine Gattungsbestimmung - er präsentiere sich in Abweichungen, ohne daß man wisse, wovon er eigentlich abweiche. Gleichzeitig bemüht er sich, den Essay, der weiterhin sein "widerborstiges, extraphilologischen Vagantenleben" führe, dennoch in eine definitorische Form zu gießen.

Wie schwierig diese Aufgabe ist, wird dem Leser bald offenbar: wenn Schärf etwa über Novalis befindet, "sein Essayismus, der ohne explizite Essayistik im Sinne des Essays als schriftstellerischer Form auftritt, weist zwei Grundaspekte auf ", trägt das nicht zur Trennschärfe der Begrifflichkeit bei.

Im Kapitel über die Brüder Heinrich und Thomas Mann rückt Schärf den "Bruderzwist" anhand des Essays "Geist und Tat" von Heinrich Mann und des Großessays "Betrachtungen eines Unpolitischen" seines Bruders in den Mittelpunkt. Detail- und kenntnisreich zeichnet Schärf den Bruch zwischen den Brüdern nach, einen Bruch, der den einen in die sogenannte Moderne und in die Politik führte und den anderen zurück in die Romantik. Beide haben sich des Essays nicht explizit als literarischer Form bedient, sondern als loser Form der Positionsbestimmung zwischen den Polen Literat und Dichter.

Die Essays der Brüder Mann sind zweifellos ein wichtiges Kapitel in der Geschichte des Essays, dessen Beitrag zur Begriffsklärung jedoch unklar bleibt. Vielmehr entsteht der Eindruck des Abschweifens in rein poetologische Problemfelder, etwa der Frage, ob Poesie Demokratie vertrage oder nicht. Auch wird die Idee vom Essayismus als Haltung "ohne normatives Weltbild", gleichsam einer Art anarchischen Substrats, aus dem der Essay, wenn auch nicht zwingend, erwachse, wieder verwischt. Nicht nur einmal stellt sich der Eindruck ein, hier solle das Phänomen mit dem Phänomen selbst im Sinne einer "Ich-bin-Ich-Erklärung" erklärt werden. Häufig lesen sich die Erläuterungen zu Zitaten weitaus komplizierter, als das zu Erklärende selbst.

Was dieses Buch leistet, ist die an wesentlichen Eckpunkten festgemachte historische und poetologische Aufarbeitung dieses Forschungsgebiets. Es wird aber nur bedingt deutlich, wie Essay, Essayismus, Essayistik zueinander stehen. Fraglich ist auch, welche Zielgruppe von Christian Schärfs Band angesprochen werden soll. Der mit Fachterminologie getränkte Text verweigert sich nicht selten dem Leser, da fundierte Kenntnisse der Literatur- und Geistesgeschichte vorausgesetzt werden..

Titelbild

Christian Schärf: Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999.
304 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3525012241

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