Körper der Erinnerung

Klaus-Jürgen Liedtkes Gedichte "Scherben Leben Brocken Tod"

Von Anna EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor uns ein Feld. Verseucht von Schuld, überwuchert von der Zeit. Aber nicht dicht genug, die Erde bricht auf und gebiert Fragen, die nur von wenigen wahrgenommen werden. Klaus-Jürgen Liedtke hört den "Glockenklang aus / den Massengräbern die erst zu öffnen sind". Er hebt die Last an die Oberfläche: "Das Joch der Dunkelheit / auf den Schultern". Dieses Joch ist auch die Willkür des Tötens, die Menschen zu Tätern und die Gequälten zu Opfern macht.

Verbrechen halten sich nicht an Zeit und Raum, aber sie konzentrieren sich auf Jahre und Länder, in denen der Boden mit Blut durchdrängt wird. Zwischen 1969 und 1999 sucht Liedtke in seinen Gedichten Prizren, Kaliningrad, Küstrin, Königsberg und Wilna auf, Orte, wo etwas "die Kehle hinabrinnt / und in uns verblutet".

Beginnend mit den neuesten Gedichten verläuft die Zeit rückwärts. Dringt man tiefer in die Vergangenheit vor, erschließt sich dem Leser eine griffigere, exakte, teils auch brutalere Sprache: "Hack dir / die Hände ab / daß die offenen / Stumpen zucken".

Der Weg des Daseins bis zu dem Zustand, in dem alle Vorgänge im Körper eingestellt worden sind, ist übersät von Zerbrochenem und Zerstörtem. "Entsinnt der Körper sich? Des ersten / Blicks? Der Nägel die Ihn ritzten?" Trägt er die Erinnerung in sich? Ja er tut es: "Rauhreif / [...] Eistropfen im Buchenlaub" in Buchenwald am Fuße des schwarzen Geröllfeldes und vor uns "Fensterloses Grau / des Grauens".

Aus den Gedichten spricht nicht ausschließlich Schwermut: "Melancholie, kuh- / äugiges Tier / Übergesetzt / durch die Furt der Verzweiflung / Daß dich am anderen Ufer / der gute Hirte weidet". Über die Jahre verstreut, taucht aus den teils stark beschreibenden Bestandsaufnahmen, ein "Du" auf. Neben Verführung und Begierde "Fesseln, Blickfänge und -ficks" gibt es "eine Hand die tröstet". Gedichte von Nähe, von Zuflucht werden wie Pflänzchen zwischen die Brocken gesät: "Allen Verstand übersteigt / die nächtliche Flut / in deine Wasser / steig ich dir nach".

Mit der Erkenntnis "wir erkalten ja nicht / völlig im Winterschlaf" entsteht im "Zwiegespräch [...] ein Leuchten" in den Augen.

Die lyrische Welt des 1950 in Südtondern geborenen Autors, wird durchspült von der See und den Wellen. In seine Wortnatur aus Steinen, Wasser, Holz und Salz dringt die Zivilisation nur zögernd ein, "Züge" und ein "Taxi" werden übertönt vom Tosen der Gischt. Weg von der Küstenlandschaft durchziehen Spree, Neretwa und Save Liedtkes Lyrik wie Adern, was fehlt sind die Brücken, jemand der "Pfeiler ins Seewasser" rammt. Aber es gibt sie, die Hoffnung und die Zuversicht, auch wenn "es heißt Leben sei / grauäugig" und "die Sonne / schein[e] auf mich / nicht mehr lange herab", sage "Ich [...] sanft besänftigt / im Auge des Sturms sitz mit mir".

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Klaus-Jürgen Liedtke: Scherben Leben Brocken Tod. Gedichte 1969-1999.
Gemini Verlag Diana Kempff, Berlin 2001.
70 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 3935978065

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