Zauber der Kindheit

Hella Eckerts Roman "Hanomag"

Von Christine GutweilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Gutweiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie schon so viele Male bricht die Familie auf, um sich an einem anderen Ort im Norden für unbestimmte Zeit niederzulassen. Der Vater, der sein Geld mit Umzügen und Kleintransporten mit seinem Lastwagen der Marke "Hanomag" verdient, wittert dort ein großes Geschäft. In einer Hafenstadt soll ein internationaler Containerumschlag errichtet werden, an dem sich Ritas Vater beteiligen möchte.

Hella Eckerts Roman "Hanomag" ist die Geschichte eines Sommers im Leben von Rita und ihren Eltern. In der neuen Heimat angekommen, richten sie sich in einer einfachen Wohnung in der Nähe des Hafens ein und harren der Dinge, die sie nun erwarten. Mit Dora, die unter ihrer Wohnung eine Bar betreibt und deren Sohn Kashi, der Ritas Spielkamerad wird, freunden sie sich schnell an. Voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft bereitet sich der Vater auf das große Containergeschäft vor. Mit kleineren Arbeiten am Hafen und dem Geld aus einem Erbe kommen sie für einige Zeit gut über die Runden. Der Wunsch der Familie ist es, eine Konzession für einen Dreißigtonner LKW zu bekommen, der die Voraussetzung für das große Geschäft ist.

Doch das Leben in der fremden Stadt gestaltet sich schwieriger als zunächst erwartet. Zweifel, ob das Containergeschäft nicht doch in einem anderen Hafen errichtet wird, trüben bald die anfängliche Zuversicht der Familie. Vielleicht war ihr Leben vorher besser, als sie ihr Geld noch mit dem Hanomag verdient haben und sie noch nicht an ihre große Chance geglaubt haben, die sich vielleicht nie erfüllen wird?

Der Hafenmeister, für den Ritas Vater schon einige Male gearbeitet hat, macht ihm Hoffnung in das zu erwartende Geschäft einzusteigen und lässt ihn dann wieder fallen. Denn ohne Hilfe hat die Familie keine Chance die Konzession zu erhalten, da sie nicht die nötigen finanziellen Mittel haben. Langsam lebt sich die Familie auseinander und hält doch immer zusammen. Ritas Mutter glaubt, dass sie sich mit ihrem Vorhaben übernommen haben, was ihr Mann nicht wahrhaben will. Er verlässt die Familie, um für den Hafenmeister in Marseille die Lage des Containergeschäftes auszukundschaften. Denn Gerüchten zufolge sollen dort die Schiffe ankommen, die mit Containern beladen von New York aus starten.

Rita und ihre Mutter richten sich nun ihr Leben zu zweit ein, unsicher, ob es sich bei dem Auftrag des Hafenmeisters nicht um ein kriminelles Geschäft handelt. Ritas Mutter, die wieder angefangen hat zu arbeiten, verliebt sich in ihren Chef Karl Zerkowitz. Dieser ist der Inhaber des größten Transportgeschäftes der Gegend und hat Verbindungen zum Hafenmeister, so dass bald der Verdacht entsteht, dass beide Ritas Vater auf eine aussichtslose Reise schicken, um ihn als Konkurrenz im Transportgeschäft auszuschalten.

Rita arbeitet in den Ferien in einer Gärtnerei, trifft sich heimlich zu einem Eis mit dem Hafenmeister, der von ihrem Vater den Auftrag hat, sich um sie zu kümmern. Dann stirbt Kashi, Dora zieht sich zurück - und alles scheint auseinander zu brechen. Doch dann ist der Vater auf einmal wieder da und als wäre nichts gewesen, wird kein Wort über Marseille verloren, vielleicht weil dort wirklich nichts geschehen ist.

Karl Zerkowitz stirbt, als er von einem Container erschlagen wird und die Familie nähert sich einander langsam wieder. Die ersehnten Containerschiffe erreichen den Hafen, ohne dass Ritas Eltern sich ihren Traum vom großen Geschäft erfüllen können. Doch sie finden wieder zueinander, auch wenn ein Teil ihres Lebens verloren geht, als der Hanomag bei einem Unfall ausbrennt.

Hella Eckert ist mit ihrem Roman auf die Hoffnungen und Ängste von Menschen eingegangen, die es wagen, ihr Leben für ein neues aufzugeben. Sie erzählt uns ihre Geschichte aus der Sicht von Rita, einem sechzehnjährigen Mädchen, das den Leser vergessen lässt, dass es eigentlich noch ein halbes Kind ist. Denn bei allen Problemen, die zwischen ihren Eltern aus Sorge um eine gesicherte Zukunft entstehen, teilt sie uns stets ihre Gedanken mit, die schon so erwachsen scheinen.

Rita zeigt Verständnis dafür, dass ihr Vater die Familie verlässt, nicht nur des Geschäftes wegen, wohl auch um dem Trott des Alltags zu entkommen. Auch als ihre Mutter die Bekanntschaft mit Karl Zerkowitz macht, versteht sie deren Bedürfnis nach Nähe, zumal ihr Mann sie für einige Zeit verlassen hat. Doch wer versteht eigentlich dieses junge Mädchen, die zwischen all den Sorgen der Erwachsenen fast unterzugehen scheint? Manchmal träumt sie von dem Mann, denn sie später einmal heiraten wird und dann erinnert man sich wieder, wie jung sie eigentlich noch ist.

Wenn sie von den Fahrten mit ihrem Vater im Hanomag erzählt, lässt sie den Leser teilhaben an dem Zauber ihrer Kindheit. Der Gedanke zu Beginn des Buches, was denn an einem Lastwagen so besonders sein kann, dass man darüber schreiben müsste, verschwindet schnell. Der Leser wird in die Familie aufgenommen und nimmt an den Ereignissen teil, als gehöre er dazu.

Auch die Personen, die Hella Eckert neben Rita und ihren Eltern erwähnt, haben Charakter. Dora und ihr Sohn werden auch für den Leser zu Freunden, und der Hafenmeister sowie Karl Zerkowitz bleiben für ihn ebenso geheimsnisvoll wie für Rita. Der Besitzer des Eisladens, der für Ritas Mutter schwärmt, lässt einen schmunzeln, wenn er ihr aufdringliche Postkarten aus Italien schreibt.

Die sehr aufmerksamen Beobachtungen der Autorin, machen das Buch zu einem kleinen Erlebnis, auch wenn das, was sie erzählt, wenig spektakulär ist. Jeden Tag platzen die Träume von Menschen, und vielleicht will man lieber von Erfolg lesen, um für einige Zeit den Alltag zu vergessen. Doch Hella Eckert zeigt uns hier sehr eindrucksvoll, dass trotz aller geplatzten Träume eine Familie zusammenhält und wohl auch immer an ihr Glück glaubt, wie weit sie in einigen Momenten auch davon entfernt sein mag.

Titelbild

Hella Eckert: Hanomag. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 1998.
189 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3630869793

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