Vor dem Unglück

Vorahnungen und Bestandsaufnahmen im "Jahrbuch der Lyrik 2003"

Von Jens MayerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Mayer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Oft wird uns etwas als neu angepriesen was eigentlich von gestern ist, zum Beispiel die Brötchen beim Bäcker. Manchmal wird uns sogar etwas als zukunftsweisend vorgestellt, obwohl es schon älter ist: Das "Jahrbuch der Lyrik" scheint das so zu machen, da heißt die eben erschienene Anthologie "Jahrbuch der Lyrik 2003" - der Verlag weiß also was morgen "in" ist? Christoph Buchwald will uns hiermit wohl seine "Trendspotting" - Qualitäten aufzeigen, denn immerhin erscheint die von ihm herausgegebene Sammlung, "die alle wichtigen poetischen Entwicklungen sichtbar gemacht hat", bereits zum zwanzigsten Male.

Auch hier will es von 1979 bis 2002 (2003?) nicht so recht klappen mit der Rechnung, man müsste die Möglichkeit eines kausalen Nexus mit einbeziehen.

Doch genug der Zahlenspielereien: Buchwald steht, wie jedes Jahr ein Mitherausgeber "vom Fach" zur Seite, diesmal der freie Schriftsteller Lutz Seiler, dessen Gedichtbände "berührt/geführt" (1995) und "pech und blende" (2000) bereits Kritikererfolge waren.

Das Nachwort macht klar, dass keine feierliche Jubiläumsselbstbeweihräucherung der Herausgeber intendiert. Stattdessen wird das entscheidende Ereignis im September des Jahres 2001 thematisiert. Da der Einsendeschluss der Gedichte einige Tage vor dem 11. September lag, bildet "die vorliegende Auswahl eine literarische Aufnahme der Situation, die dem Unglück vorausging." Lutz Seiler spricht aber auch "von einigen erbetenen Ausnahmen". Wer diese "Auftragsarbeiten" beigesteuert hat, wird nicht verraten, lediglich, dass Johannes Kühn nicht dazugehörte, denn dieser entpuppte sich mit seinem 2000 entstanden Stück "Hochhaus" so Seiler als Prophet. Man ist nun also gerüstet, die Anthologie im Hinblick auf die Disparität des Lebens vor und nach dem 11. September zu rezipieren.

Die Sammlung ist in fünf Teile unterteilt; zu den Autoren zählen allseits geschätzte Namen wie Volker Braun, Robert Gernhardt, Durs Grünbein oder Friederike Mayröcker, sowie eine Vielzahl neuer und weniger bekannte Schreiber.

Besonders der erste Teil "Kein Showdown macht klüger" lässt nachdrücklich an die dramatische Ereigniskette im Herbst des letzten Jahres denken, denn die Themen der Gedichte spiegeln die Erfahrung und dem Umgang mit Tod, Gewalt, Angst und Konfrontation wieder. Es geht um Kriege, Straßenschlachten, Fremdsein und die Angst vor der Zukunft oder vorm Älterwerden.

Volker Braun beschließt diesen Teil mit seinem "Shakespeare-Shuttle", in dem er mit einem Rundumschlag den traurigen Zustand der gesellschaftlichen Befindlichkeit offenlegt.

Der folgende Teil, "Der Stand der Vorarbeiten", liest sich wie eine Bestandsaufnahme; eine Auseinandersetzung mit einer düsteren Gegenwart. Die raue Melancholie erzählt von Verfall und Einsamkeit. Verregnete und dunkle Naturbilder stehen hier als Gegenentwurf zur modernen, schnelllebigen Gesellschaft.

Durs Grünbein tritt hier mit der Fortsetzung des im ersten Teil begonnenen Stückes "September Elegien" auf. Kann der erste Teil noch auf die unmittelbare Reaktion und Hysterie auf das Ereignis vom 11. September verstanden werden, so thematisiert die Fortsetzung das Leben mit der Katastrophe, bzw. die Verarbeitung derselben.

Der vierte Teil, "Im richtigen Augenblick", ist den Autoren gewidmet, die Neulinge im Jahrbuch der Lyrik sind. Hier weiß Alma Vallazza, mit ihrer bildhaften und eindringlichen Sprache in "Ode an die Aspangbahn" zu überzeugen, Christoph Grobe erzählt emphatisch von "Schnee". Der 23-jährige Sebastian Unger macht in "Haltungen (IV)" die schmale Grenzlinie zwischen Leben und Tod in alltäglichen Situation zum Thema.

Der letzte Teil, "bis dä beckett widdä weidäfährd", ein Zitat aus Fitzgerald Kusz "Gegengedicht" zu Brechts "Radwechsel", beschließt die Sammlung dann versöhnlich mit amüsanten und blitzgescheiten Lautgedichten sowie unterhaltsamen Reflexionen über Kunst und Literatur. Dort heißt es im abschließenden Gedicht von Steffen Jacobs "Flackern, Fließen" am Ende selbstironisch: "Doch wenn der Tag auch kunstlos ist, er steht dem Leben offen."

Das Konzept der Anthologie geht auch im zwanzigsten Jahr des Erscheinens auf und gibt einen guten Überblick über die Tendenzen und die Stellung der deutschen Gegenwartslyrik. Diese kommt oft ein wenig eintönig daher, wofür die Herausgeber aber wirklich nichts können. Wünschenswert wären noch mehr frische Ideen und neue Impulse gerade von jüngeren Autoren.

Die Texte allerdings lediglich auf eine Situation zu beziehen, die dem "Unglück" des 11. Septembers vorausging, so wie es Lutz Seiler im Nachwort tut, ist ein zu kurzer Ansatz in der Lesart der Texte, da die Gefahr besteht, sie ihrer eigentlichen Bedeutung zu berauben und sie auf den Kontext dieses Ereignisses zu reduzieren.

Titelbild

Christoph Buchwald / Lutz Seiler (Hg.): Jahrbuch der Lyrik 2003.
Verlag C.H.Beck, München 2002.
135 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3406486975

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