Der Wille zum Mitleid

Klaus-Jürgen Grüns Einführung in Schmidt und Schopenhauer

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die schmale, aber lehrreiche Schopenhauer-Monografie des jungen Frankfurter Philosophen Klaus-Jürgen Grün beginnt mit einem kurzen Lebensabriss des grantelnden Willensmetaphysikers: Er zeigt den jungen Schopenhauer auf einer Vergnügungsreise, auf der ihm Bettler, Matrosen und Versehrte mehr auffallen als der Reichtum und Forschritt, lässt ihn 1803 in Frankreich die Greuel der Revolution miterleben. Schopenhauer studiert zunächst in Göttingen Medizin und gelangt erst danach zur Philosophie - und nach Berlin, wo er sich u. a. mit dem Problem der Kausalität beschäftigt. Nach dem Misserfolg seiner Lehrtätigkeit und mangelnder Resonanz auf "Die Welt als Wille und Vorstellung" lebt er als ein dem Okkultismus zuneigender Einsiedler in Frankfurt, wo er im letzten Jahrzehnt seines Lebens noch zu einiger Berühmtheit gelangt.

Grün rekonstruiert die Schopenhauersche Lehre konsequent aus seiner doppelten Frontstellung gegen den mechanischen "Vulgärmaterislismus" (Friedrich Engels) eines Vogt, Moleschott und Büchner, sowie gegen den Idealismus Kants und Hegels. Beide Positionen sind in Schopenhauers Augen hinterrücks miteinander verbunden, da sie die Einheitlichkeit der Welt aus der subjektiven Seite des Kausalgesetzes begreifen. Diese Einheit kann Schopenhauer jedoch demontieren, indem er Idealismus und Materialismus gegeneinander ausspielt: Zunächst werden die neuzeitlichen Naturwissenschaften mit Kant ihrer erkenntnistheoretischen Unzulänglichkeit überführt, anschließend wird der "Satz vom zureichenden Grundes" um einen wichtigen Aspekt erweitert. Seine vierte Wurzel, so Schopenhauer in seiner Dissertation, charakterisiere ein blindes Wollen, für welches kein weiterer Grund mehr angegeben werden könne.

Aussagen der Wissenschaft, so lautet am Ende des Kapitels über Schopenhauers physiologische Theorie der Farben Grüns Urteil über die Erkenntnistheorie seines Vordenkers, sind immer nur bezogen auf die Welt als (Kantische) Vorstellung. Über die physikalische Weltsicht der "Welt als Vorstellung" will das Hauptwerk in der Aufnahme der Dissertationsthese aber gerade hinausgehen. Mit der Verlagerung des Kantischen "Dings an sich" in den Bereich des Willens hinein ist nach Grün auch eine Rehabilitierung des Leibes verbunden, mehr noch: "Die naturalistische Basis der Willensmetaphysik erlaubt keine wesentliche Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, vielmehr erinnert sie an die animalische Natur des Menschen." Der Leib, so Grün weiter, wird bei Schopenhauer zur Schaltstellte zwischen Metaphysik und Physik.

Daher auch das lebhafte Interesse, das Schopenhauer dem physiologischen Materialismus der französischen Aufklärer und "médicins-philosophes" entgegen bringt. Mit seinem Lehrer Alfred Schmidt konstatiert Grün sodann eine Art physiologische Wende der Kantischen Transzendentalphilosophie: Schopenhauer "materialisiert die Leistungen des Kantischen Bewußtseins".

Gerade der die Realität ihres trügerischen Glanzes beraubende Wille mobilisiert nun in Schopenhauers Werk einen moralphilosophischen Reflex: Seine Unersättlichkeit erzeugt immer neue Begierden und bringt somit Leiden in die Welt. Weit entfernt von einer bloß sentimentalen Gemütsverfassung, beruht das das egoistische Wollen verneinende "Mitleid" auf der Einsicht, dass das Individuum nur ein unmaßgeblicher Bestandteil in einer durch Mangel bestimmten Welt ist. Schopenhauers Pessimismus erblickt das die Menschen verbindende Band in ihrem gemeinsamen Unglück. Anders als Kants fundamentalistische, auf der Gewissheit apodiktischer Urteile beruhende "Moraltheologie", will er auf eine handfestere metaphysische Ethik a posteriori hinaus - eine Moral, die sich auf die empirisch-leiblichen Triebfedern des Handelns gründet. Schopenhaues Ethik, betont Grün ganz in der Tradition der von Schmidt zum "Kritischen Materialismus" fortentwickelten Kritischen Theorie das naturalistische Moment der Schopenhauerschen Morallehre, sei "dechiffrierte Empirie".

Daran schließen sich in Grüns Buch zwei kürzere Kapitel über Schopenhauers Religions- und Kunstphilosophie an, es fehlt jedoch ein Kapitel über seine Geschichtstheorie. Dass Grün das Bändchen seinem geistigen Ziehvater Schmidt nicht nur widmet, sondern ihm darüber hinaus in hohem Maß verpflichtet bleibt, erfährt der Leser noch einmal im letzten Kapitel. So lobenswert der Ausblick auf die Verwandtschaft Schopenhauers und Freuds sowie die Aktivierung soziologischer Potenziale Schopenhauers durch Horkheimer auch sein mag - er enthält nur wenig, das nicht schon anderswo nachzulesen war. Vielleicht verzeichnet die Bibliografie deshalb auch mehr Buchtitel Schmidts als Werke Schopenhauers.

Titelbild

Klaus Jürgen Grün: Arthur Schopenhauer.
Verlag C.H.Beck, München 2000.
136 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3406419593

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