"Ein schöner / Glatter gottergebener Spiegel für schwarze Bilder"

Notizen zur ersten Werkausgabe der Dichterin Sarah Kirsch

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie ist in allen Texten unübersehbar: Die Lust, mit der Sarah Kirsch ihr Handwerk des Schreibens betreibt - das Spiel mit Wort und Bild, mit Satz und Vers, mit Rhythmus und Pause, mit Sprechgebärden und Schweigegesten. Die Lust, Sinnesdaten und Sachverhalte schriftlich zu fassen, eine Seite mit Schrift zu bedecken oder weiß zu lassen, nur um dann doch noch einen Schnörkel anzuhängen. Dazu gesellt sich das komplizenhafte Sprechen zu den Dichterfreunden, der intime Hallraum der Texte und deren Nähe zur Postmoderne: eine Ich-freundliche Reserviertheit gegenüber jedweden Axiomen, das lustvolle Spiel beim Zusammenschreiben des Disparaten, die Collagetechniken und der plurale Stilwillen ihrer Texte. Auch das Verschleifen und Überspielen vieler, von der konventionellen Grammatik geforderter Ordnungs- und Verständigungszeichen sind markant; sie beschleunigen das Tempo ihrer Texte, dem rhythmischen Ausgreifen der unerhörten Wörter und ihrem poetischen Ausdruck zuliebe. Die Bilder stehen meist sehr nah beieinander. Nicht selten entsteht dadurch ein expressiver Charakter. Ihre Gedichte sind beherrscht von mitunter spröder Intensität, sie meiden den allzu harmonischen, fließenden Vers, bevorzugen stattdessen das stockende, lakonische Sprechen. Sie überzeugen durch ihre herbe, gelegentlich unbeirrbare Eigenwilligkeit, auch dort, wo sie sich scheinbar idyllischen Motiven öffnen. Man begegnet immer wieder einer überraschenden Bildhaftigkeit, die sich allen gewohnten Wahrnehmungsweisen widersetzt. Sarah Kirschs Gedichte sind nicht selten geprägt von einem Charakter der Verschwiegenheit, wenn es etwa heißt: "In diesem Winter brauch ich ein Haus / wohnen will ich, kaum reden / unterschiedliche Zimmer / mit verschiedenen Fenstern." Sichtbar wird das kaum zu ertragende Paradoxon: die Sehnsucht danach, für sich sein zu können, zugleich aber auch der Wunsch, sich dem anderen zuzuwenden: "Ich kannte nur mich und das war zu wenig. Saß da / Mit mir auf der Bank ich in der Mitte ich rechts von mir / Und links auch noch." Existentielle Erfahrungen - Einsamkeit, Liebe, deren Scheitern - durchziehen die Texte Sarah Kirschs mit einer ähnlichen Intensität wie das Be- und Ausschreiben der schleswig-holsteinischen Landschaft, in der die Autorin seit einigen Jahren lebt.

Nicht nachlassend, eher zunehmend ist ihre Fähigkeit zur Verwunderung, die immer noch eine der wesentlichen Voraussetzungen aller Poesie ist. Denn Sarah Kirsch - das gilt besonders für die Erinnerungsbeschwörungen in dem Prosaband "Allerlei-Rauh", aber auch für die Gegenwartsimpressionen und Landschaftsbeschreibungen in ihren Gedichten, in die immer Vergangenes hineinströmt -, zeigt in ihren Texten nicht nur die sprachlich verdichtete Kristallisation der Ursprungsbilder ihrer Poesie, sondern gibt auch Einblick in den Prozess von Erinnerung und dichterischer Metamorphose. Sarah Kirsch findet den Weg zur Prosa, indem sie, wie Walter Helmut Fritz einmal treffend beschrieben hat, "zunächst etwas, was andere Menschen ihr erzählen, aufnimmt; indem sie hinhört; indem sie aufmerksam ist. Nicht die Erfindung einer Geschichte, einer Verwicklung und deren Auflösung ist ihr wichtig, nicht die Beschreibung eines inneren Zustands. Was sie reizt, ist das Weitergeben von wahrgenommenem Lebensstoff, -bedingungen, -schwierigkeiten, -einzelheiten, über die sie sich beugt, die (indem sie das Gehörte zu Papier bringt) im Entscheidenden erhalten bleiben und die zugleich (wenn auch nur leicht, nur andeutungsweise) von ihrem Ton, bestimmten sprachlichen Eigentümlichkeiten [...] geprägt sind." "Pointillistischen Bildern" (Sarah Kirsch), die zum Teil recht nah an der Wirklichkeit bleiben, auch tagebuchartigen Charakter haben, zum Teil die rasche phantasievolle Verwandlung bevorzugen, und einem intertextuellen Geflecht aus Märchen und historisch Gesichertem, Legenden und autobiographischen Reminiszenzen, Erinnerung an Gewesenes und gegenwärtiges Leben sowie Zitaten diverser Texte der Weltliteratur begegnet man in den Prosa-Texten der Autorin immer wieder.

Auch ihr Leben empfindet die Autorin als Patchwork: Sie habe mehrere Leben gehabt, schreibt sie in ihren Prosatexten immer wieder, die sich stark voneinander unterschieden. Wenn das eine endete und das andere begann, habe es gegolten, Abgründe zu überwinden, um wieder Land zu sehen. Hansgeorg Schmidt-Bergmann hat in diesem Zusammenhang zu recht darauf verwiesen, dass ihre letzten Texte den optimistischen, lebensbejahenden Ton früherer Veröffentlichungen verloren haben, die Bilder werden "immer hermetischer, die Bedeutungen entziehen sich zunehmend einer Dechiffrierung". "Dunkler und pessimistischer" erscheine etwa die lyrische Stimmung der Sammlung "Schneewärme" (1989), deren Gedichte "wie Spiegel für schwarze Bilder" (aus dem Gedicht "Schwarzer Spiegel" von Sarah Kirsch) zu lesen seien.

Zur Orientierung innerhalb der paradoxen und disparaten Bilder- und Text-Welten Sarah Kirschs kommt die vorliegende, hier anzuzeigende Ausgabe der Gedichte und Prosa in fünf Bänden gerade recht. Sie ist die erste Werkausgabe der Dichterin, die - nach der gebundenen bibliophilen Ausgabe in der Deutschen Verlags-Anstalt - nun auch als Taschenbuchausgabe im Deutschen Taschenbuch Verlag vorliegt. Die Werkausgabe ist nach Gattungen getrennt und in der Reihenfolge ihres Erscheinens in drei Gedichtbände und zwei Prosabände gegliedert. Sie enthält im ersten Band ("Gedichte 1") die Gedichtbände "Landaufenthalt" (1969), "Zaubersprüche" (1974) und "Rückenwind" (1977), die Sarah Kirsch sämtlich bei Langewiesche-Brandt in München publiziert hat. Der zweite Band ("Gedichte 2") versammelt den Band "Drachensteigen" (1979; ebenfalls noch bei Langewiesche-Brandt) sowie die beiden in der DVA veröffentlichten Bände "Erdreich" (1982) und "Katzenleben" (1984). Band 3 ("Gedichte 3") enthält die sämtlich in der DVA publizierten Bände "Schneewärme" (1989), "Erlkönigs Tochter" (1992) und "Bodenlos" (1996). Den Auftakt der Prosabände machen im vierten Band ("Prosa 1") die Texte "Die ungeheuren bergehohen Wellen auf See" (Manesse, 1987), "La Pagerie" (Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1980) und "Irrstern" (DVA, 1986). Den Abschluss bilden im fünften Band der Ausgabe ("Prosa 2") die Chronik "Allerlei-Rauh" (DVA, 1988), der Text "Schwingrasen" (DVA, 1991), die tagebuchartigen Notizen von Sarah Kirschs Lesereise durch die Bundesrepublik mit dem Titel "Spreu" (Steidl, 1991) sowie der Prosaband "Das simple Leben" (DVA, 1994).

Titelbild

Sarah Kirsch: Gedichte und Prosa. Werke in fünf Bänden.
dtv Verlag, München 2000.
1204 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3423590416

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