Katharsis, Gefährdung oder was?

Eine Kulturgeschichte der Computerspiele

Von Torsten GellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Gellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Natürlich hat man im Kinderzimmer des Amokläufers Robert Steinhäuser ein Exemplar des Computerspiels "Counter Strike" gefunden. Genauso sicher hätte man bei dem Blick in die Garage etwa ein Fahrrad oder ein Skateboard finden können. Solche Ego-Shooter genannten Spiele, bei denen man das meist gewalttätige Geschehen aus der Ich-Perspektive wahrnimmt, sind ein so selbstverständlicher Teil der Jugendkultur geworden wie Clearasil Gesichtswasser oder Mp3. Aus diesem Fund die Wahnsinnstat von Erfurt herleiten zu wollen, ist schon ein großes Wagnis. Obwohl das Spiel bereits seit drei Jahren auf dem Markt ist - eine Ewigkeit für ein Computerspiel -, befindet es sich immer noch auf den ersten Plätzen der Verkaufslisten, und die gut geölten Mechanismen unserer Medienwelt haben jetzt dafür gesorgt, dass neue Käuferschichten auf dieses Produkt aufmerksam geworden sind.

Das einzige, was man nach der Tragödie von Erfurt mit Gewissheit konstatieren kann ist Hilflosigkeit. Hilflosigkeit auf Seiten der Mitschüler, der Eltern, der Angehörigen und der Politiker. Letztere unterscheiden sich von den anderen dadurch, dass sie ihrer Erklärungsnot nicht öffentlich Ausdruck verleihen dürfen. Im Schnellschussverfahren werden daher die absurdesten Konsequenzen proklamiert - begleitet von der Floskel, keine voreiligen Schlüsse ziehen zu wollen. Eine davon lautet, "Killerspiele" wie "Counter Strikes" zu verbieten. Abgesehen davon, dass ein solches Verbot in Zeiten schrankenloser und nicht kontrollierbarer Kommunikation im Internet so effektiv wäre wie eine Demonstration für ein Waffenverbot in Texas, steht der empirische Nachweis eines kausalen Zusammenhangs von medial vermittelter Gewalt und realer Gewalt immer noch aus.

Der Ruf nach dem Verbot von Computerspielen ist indes nicht neu. Angesichts des graphischen Hyperrealismus der modernsten Spiele wirken die ersten Verbotsforderungen aus den frühen 70er Jahren geradezu rührend naiv. Der erste Arcardeautomat, das simple Elektroniktennis "Pong" (zwei Striche und ein Punkt), durfte von Minderjährigen nur in Begleitung eines Erwachsenen gespielt werden. Kein Wunder, dass bei so viel Misstrauen gegenüber dem neuen Medium die ursprüngliche Idee des Klassikers "Space Invaders" (1978) schnell wieder verworfen wurde: Man wollte eine Armee feindlicher Soldaten auf die Zocker loszulassen - virtuell, versteht sich. Letztlich hat man sich lieber für harmlose Aliens entschieden. Natürlich hätte man aufgrund der miserablen Grafik weder Soldaten noch Aliens eindeutig identifizieren können.

Das Buch "Wir waren Space Invaders" des Frankfurter Medienwissenschaftlers Mathias Mertens und des Schriftstellers Tobias O. Meißner erzählt mit spürbarer Begeisterung von diesen heute so grotesk wirkenden Reaktionen auf die ersten Computerspiele. Sie berichten von den zunächst einfachen, in groben Pixeln präsentierten Spielideen der Gründerzeit und von den komplexen, kaum noch lösbaren Rollen- und Strategiespielen der Gegenwart. Während das Thema bislang eine Domäne sozialwissenschaftlicher Abhandlungen zum Zwecke der Bestätigung oder Widerlegung der Gefährdungsthese, oder aber auch der Karthasistheorie war, versuchen sich die beiden Autoren nun an einer Art Kulturgeschichte des Computerspiels.

Meißner und Mertens entstammen der Generation, die mit dem ewig hungrigen "Pac-Man", dem Fässer schmeißenden Gorilla "Donkey Kong" und dem ultimativen Joystick-Killer "Summer Games" aufgewachsen sind. Sie sind Pioniere einer völlig neuen Kulturtechnik - des "Daddelns". Deshalb ist es selbstverständlich und auch erhellend, dass sie ihre persönlichen Erfahrungen immer wieder in die ordentlich recherchierte Chronik einbringen. Es ist nämlich nicht immer von Nachteil, wenn man von einer Sache redet, die man kennt. Ein paar spärlich eingestreute Zitate von Eco oder McLuhan bedienen zudem die theoretischen Bedürfnisse der Leserschaft, auch wenn sie ein wenig pflichtschuldig wirken.

Es passiert eine ganze Menge, viel Anekdotisches und Sagenhaftes, bis schließlich 1993 pünktlich zur Weihnachtszeit "Doom" den Markt erobert und ein ganz neues Genre, eben jenes der in Verruf geratenen Ego-Shooter begründet. Es gab keine zwischengeschaltete Spielfigur mehr, man nahm die Action aus der subjektiven Perspektive des Protagonisten war, man war mitten im Spiel. Im Multiplayermodus konnte man sich zudem über ein Netzwerk mit anderen, leibhaftigen und nicht mehr computergenerierten Gegnern messen. Der Gipfel der Interaktion war in der Möglichkeit gegeben, über sogenannte Wad-Files eigene virtuelle Welten zu bauen, die man dann im Internet zur Verfügung und Bewunderung bereitstellen konnte. Da dauerte es freilich nicht lange, bis die ersten Schulgebäude als Wad-File im Netz auftauchten. Für die beiden Autoren hat das mit "Massakern wie dem in Littleton oder anderen Amokläufen von Jugendlichen [...] überhaupt nichts zu tun". Warum nicht, das vermögen sie eigentlich überhaupt nicht zu erläutern.

Sicherlich wäre dem Buch nach den jüngsten Ereignissen noch ein Kapitel hinzuzufügen, auch wenn es gerade der Anspruch der Verfasser war, den "pädagogischen Abhandlungen über die Wirkung von Gewalt am Computer [...] eine Beschreibung und Analyse der Ausbreitung und Faszination von Spielen" entgegen zu setzen. Im Angesicht dieses Buches von einer "Analyse" zu sprechen, ist eine freche Übertreibung. Was die Faszination angeht, davon wissen Mertens und Meißner jedoch einnehmend zu berichten.

Titelbild

Mathias Mertens / Tobias O. Meißner: Wir waren Space Invaders. Geschichten von Computerspielen.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
190 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3821839201

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