Ein Töpfer gegen Goliath

"Das Zentrum" ist der neue Roman des Nobelpreisträgers José Saramago

Von Julia SchusterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Schuster

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Der Mensch sieht nie die Dinge selbst, sondern stets nur ihre Schatten", philosophierte einst Platon in seinem Höhlengleichnis. Und bevor Saramagos Held den Schatten an der Höhlenwand den Rücken kehrt und den Ausgang aus der Höhle findet, muss er lang bangen, zweifeln und hoffen - und der Leser tut dies mit ihm.

Cipriano Algor, so der Name jenes "Helden", ist 65 Jahre alt und betreibt mit seiner Tochter Marta eine kleine Töpferei in einem portugiesischen Dorf. Seine Teller, Becher und Krüge verkauft er an "das Zentrum", ein modernes riesenhaftes Einkaufszentrum in der nahegelegenen Stadt. Als er eines Tages, einem Freitag dem Dreizehnten, in die Tiefgarage des Zentrums fährt, um an der Laderampe seine Ware abzuliefern, hat er kein gutes Gefühl, und das sollte sich schnell bestätigen: Der Abteilungsleiter teilt ihm mit, dass ein neuartiges praktisches Plastikgeschirr auf den Markt gekommen sei und seine Dienste daher nicht mehr in Anspruch genommen würden. Ciprianos Welt gerät ins Wanken. Doch so leicht wollen er und Marta sich nicht geschlagen geben, sie entwickeln einen Plan: Ab jetzt werden sie Tonfiguren herstellen, Clowns und Krankenschwestern, für solch rustikal-traditionellen Zimmerschmuck wird doch der eine oder andere Verwendung finden! Der Plan scheint zu gelingen, das Zentrum stellt einen neuen Lieferauftrag über eine kleine Armee der Mini-Golems. Endgültig soll aber erst eine Kundenbefragung über das Schicksal der Figürchen und damit über die Existenz der Töpferei entscheiden. Cipriano Algor stürzt sich in die Arbeit.

José Saramago schildert in seinem neuen Roman den Kampf Davids gegen Goliath, eines kleinen unbedeutenden Töpfers, der sich tapfer gegen das omnipotente Zentrum, den Inbegriff des Kapitalismus, zur Wehr setzt. Eindrucksvoll entwirft er das Bild des monströsen Konsumtempels, der weit mehr ist als ein einfaches Einkaufszentrum. Er ist Wohnanlage, Krankenhaus und Vergnügungspark inklusive simulierter Naturereignisse, er verfügt über "eine so endlos lange Liste von Wundern, dass nicht einmal achtzig müßige Lebensjahre ausreichen würden, um dieses ganze Angebot zu nutzen, selbst dann nicht, wenn man im Zentrum geboren wäre und die Außenwelt nie zu Gesicht bekommen hätte". Eine Stadt in der Stadt ohne Tageslicht - dafür aber mit Klimaanlage.

Saramagos Stärke ist es, den Leser ganz in seine Geschichten eintauchen zu lassen. Man hat stets das Gefühl, einen Schritt hinter Marta an der Töpferscheibe zu stehen oder neben Cipriano auf der Steinbank unter dem Maulbeerbaum zu sitzen. Man hat Teil an ihren Hoffnungen und Zweifeln, an ihren Ängsten und Wünschen. Die Figuren leben von ihrer Menschlichkeit.

Ein präsenter Erzähler kommentiert die Handlung. Mit einer Vorliebe für detaillierte Beschreibungen durchbricht er gelegentlich die Erzählung, um Erläuterungen zu geben oder das Verhalten der Protagonisten zu analysieren. Dadurch ist der Leser auf den Erzähler angewiesen, bis dieser sich wieder der Geschichte zuwendet. Leider verliert er sich hin und wieder in Einzelheiten und schweift etwas sehr weit vom Geschehen ab. Man muss also gelegentlich geduldig warten, bis er einem wieder die Hand reicht und zurück in die Geschichte zieht.

Die Dialoge und Gedanken der Figuren sind in den Erzählfluss teilweise so gut eingeflochten, dass es manchmal schwierig ist, herauszufiltern, wer gerade spricht. Auch die minimalistische Strukturierung durch nur wenige Absätze und die fehlende wörtliche Rede können den Lesefluss behindern. Doch wer zu Saramago greift, kennt wahrscheinlich den komplexen Erzählstil des portugiesischen Nobelpreisträgers und nimmt ihn gern in Kauf, denn den sympathischen Charakteren vermag sich sicher kaum einer zu entziehen. Auch ein Schuss Ironie darf im neuen Werk des 80-Jährigen natürlich nicht fehlen: Nachdem Cipriano Algor jeglicher Existenzgrundlage beraubt wurde, rät ihm der Herr Unterabteilungsleiter "Nutzen Sie Ihre Glückssträhne" - und er scheint es wirklich ernst zu meinen. Der alte Töpfer entschuldigt sich wiederum, "dass [er dem] Zentrum so großen Schaden zugefügt habe", und auch er scheint es ernst zu meinen. Das Zentrum ist seltsam direkt, wenn es auf gigantischen Postern verkündet: "Wir würden Ihnen alles verkaufen, was Sie brauchen, wenn es uns nicht lieber wäre, Sie würden alles brauchen, was wir Ihnen verkaufen können". Mit solchen kleinen Seitenhieben karikiert Saramago unsere konsumorientierte Gesellschaft. Die neueste Attraktion, die das Zentrum zu bieten hat, ist - man glaubt es kaum - die "Original"-Platonsche Höhle. Doch der Leser kann beruhigt sein: Cipriano Algor wird seinen Weg aus der Höhle ans Tageslicht finden.

Titelbild

José Saramago: Das Zentrum. Roman.
Übersetzt aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002.
396 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3498063510

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