Null negativ

Drei bemerkenswerte Romane der amerikanischen Autorin Marge Piercy

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immanuel Kant hat nicht nur tiefgründige Philosopheme wie die transzendentale Ästhetik entwickelt, sondern seinen Studenten auch manch abstruse Bemerkung zugemutet, die er in irgendwelchen Reisebeschreibungen gelesen hatte. So gruselte er in den Vorlesungen zur Physischen Geographie seine Hörer mit Berichten über südamerikanische Bäume, die derart giftig seien, dass man stirbt, wenn man sich auch nur in ihren Schatten legt. Weder sonderlich tiefschürfend noch völlig abstrus ist hingegen Kants Behauptung, dass sich Enkel und Großeltern gegen die mittlere Generation zu verbünden pflegen. Vermutlich gelangte er weder aufgrund angestrengten Nachdenkens noch fleißiger Lektüre zu dieser Auffassung, sondern durch Beobachtungen in seinem Bekanntenkreis.

Wie verbreitet oder zufällig das Bündnis der ersten mit der dritten Generation auch sein mag Beverly und Elena Blume, Mutter und Tochter von Suzanne Blume hätte Kant als perfekte Illustration zu seiner Behauptung heranziehen können. Bei den Mitgliedern der Familie Blume handelt es sich um Figuren des jüngsten Romans der amerikanischen Autorin Marge Piercy, einem mit rund 500 Seiten eben nicht gerade schmalen Band. Überhaupt scheint die 1936 in Detroit geborene Feministin ein besonderes Faible für dickleibige Romane zu haben, die ihren LeserInnen allerdings trotz ihres Umfanges, der schon mal an die 1.000-Seiten-Grenze heranreicht, nie lang genug sein können. Dabei betätigt sich die Autorin gelegentlich auch gerne als Wanderin zwischen den Genres der Science Fiction und des Historischen Romans. Zudem ist sie wiederholt als Lyrikerin hervorgetreten.

Obwohl mittlerweile fünf ihrer zahlreichen Romane in deutscher Übersetzung vorliegen gehört sie hierzulande noch immer zu den eher unbekannten us-amerikanischen AutorInnen. Völlig zu unrecht, wie "Stufen aus Glas" einmal mehr belegt. Die weitgehend konventionell erzählte Handlung ist voller Witz, aber auch voller Ernst - und aus dem Leben dreier Frauen mit nicht wenigen Schwächen gegriffen. Schwächen, über die man sich mit zunehmender Lektüre mehr und mehr ärgert, woran man schließlich merkt, wie sehr einem die Figuren ans Herz gewachsen sind, was wiederum an deren Stärken liegt, die ihren Schwächen durchaus nicht nachstehen.

Piercy erzählt die Geschichte der drei alles andere als perfekten Frauen, die sich in Suzannes Wohnung zusammenraufen müssen, nachdem ihre Mutter Beverly einen Schlaganfall erlitten und ihre Tochter Elena ihren Job verloren hat. Mit von der Partie sind noch Suzannes Freundin Marta und ihr Mann, die beide in der oberen Etage der Wohnung leben. Im Zentrum stehen jedoch die drei weiblichen Mitglieder der Familie Blume, die für sich schon eine explosive Konstellation bilden. Suzanne, eine 49-jährige Hochschulprofessorin, erfolgreiche Autorin von Fachliteratur und Juristin, hat sich auf Revisionsverfahren spezialisiert und verteidigt Frauen im Geschlechterkrieg, in dem die dezidierte Feministin selbst allerdings immer wieder unterlegen war. So etwa, als sie sich vor 28 Jahren mit Victor, Elenas Vater, einließ, einem latin lover, Macho und (vermutlich pseudo-)Revolutionär, bei dem sie ihr feministisches Wissen ebenso im Stich gelassen hat wie er sie, als sie im vierten Monat war.

Inzwischen ist Elena zu einer rebel without a cause herangewachsen. Auf die Frage, was sie mache, antwortet sie, sie vögele herum und bekomme ihr Leben nicht geregelt. Dabei fürchtet sie, wie ihre Mutter "idiotisch vor blinder Leidenschaft" auf eine "Reihe schlecht gewählter Männer" hereinzufallen, weshalb sie sich nach einem frühen traumatischen Erlebnis in ihren sexuellen Beziehungen nur mäßig emotional engagiert.

Ihre 72-jährige Großmutter Beverly stand hingegen bis zu ihrem Schlaganfall als engagierte Gewerkschaftlerin mit beiden Beinen mitten im Leben, trauerte allerdings gelegentlich auch schon vor dem einschneidenden Ereignis den alten Zeiten nach, von denen sie jedoch durchaus weiß, dass sie so gut auch wieder nicht waren. Als politische Aktivistin erweist sich die ebenso handfeste wie resolute Frau in den zahlreichen Auseinandersetzungen um Feminismus und Arbeiterbewegung mit ihrer Tochter als scharfzüngige Disputantin, deren Argumentationsstrukturen allerdings meist an einer gewissen Monokausalität oder an Vorurteilen leiden. Jedenfalls sind Feministinnen für sie nichts weiter als "affige Hausfrauen" und "Ladys mit Perlenkette", mit denen sie nichts gemein hat, während ihre Tochter Suzanne die Arbeiter- und Gewerkschaftsführer als "Machtpolitiker" abfertigt, die Frauen wie "Klopapier" behandeln.

Suzanne, die Frau der mittleren Generation, steht in gewisser Weise im Mittelpunkt des Buches. Sowohl ihr Verhältnis zur Mutter als auch das zu Elena ist von Missverständnissen und dem Ringen um gegenseitiges Verstehen geprägt, was nach einigen Katastrophen auch zunehmend besser gelingt, ohne dass die sehr unterschiedlichen Frauen ihre jeweilige Identität verlieren würden. Vielmehr lernen sie, einander in ihrer Unterschiedlichkeit zu akzeptieren. Und dass sie durchaus in der Lage sind, Kants Theorem des Generationenkonflikts zuwider zu handeln, stellen sie gegen Ende des Buches nachdrücklich unter Beweis.

Piercy erzählt den Roman abwechselnd aus der Perspektive der drei Frauen, wobei sie es nicht nur versteht, ihren Protagonistinnen jeweils eine eigene Sprache zu verleihen, sondern darüber hinaus auch deren jeweilige Selbstwahrnehmung mit den Wahrnehmungen der beiden anderen zu kontrastieren. Aufgrund der Erzählstruktur bleiben die männlichen Charaktere gegenüber den lebendig und plastisch gezeichneten Frauenfiguren etwas blass. Unübersehbar ist allerdings, dass es sich bei ihnen - fast - ausnahmslos um Machos oder jämmerliche Wichte handelt, und man wundert sich nachhaltig, dass die Frauen immer wieder auf solche Typen hereinfallen. Aber vielleicht ist das nun mal so.

Auch die Protagonistinnen von Piercys im Jahr 2001 neu aufgelegten Romans "Sehnsüchte" sind mit ihren Männern geschlagen. Doch sind es diesmal ausschließlich die (früheren) Ehemänner, die Leila, Mary und Becky das Leben schwer machen, beziehungsweise machten. Anders als "Stufen aus Glas" bietet "Sehnsüchte" eine eindeutig positive männliche Figur. Ebenso wie das jüngste Werk der Autorin ist das Buch aus den Perspektiven der drei Frauen erzählt. Zwar gehören sie wie Beverly, Suzanne und Elena drei Generationen an, doch wichtiger ist, dass sie aus drei verschiedenen sozialen Schichten stammen. Die gut 40-jährige Leila, die noch stärker als Suzanne, ihre Schwester im Geiste, im Zentrum der Handlung steht, lebt als gutverdienende Sozialwissenschaftlerin in Boston und ist nebenbei als Autorin tätig. Von ihrer besten Freundin Melanie, die gerade an Brustkrebs gestorben ist, wurde sie gern "Null Negativ" genannt: Sie ist die "ideale Spenderin", was bedeutet, sie kann "von kaum jemandem Blut empfangen", aber "fast allen spenden". Becky stammt aus der Arbeiterklasse und unternimmt alles, um sich nach oben zu kämpfen. Nach dem gewaltsamen Tod ihres Mannes geriet sie unter Mordverdacht und sieht nun im Gefängnis ihrem Prozess entgegen. Mary, eine ehedem gutsituierte, aber abhängige Ehegattin rutschte vor Jahren nach ihrer Scheidung mit unausweichlicher Zwangsläufigkeit in die Obdachlosigkeit ab, die sie vor ihren beiden Kindern ebenso geheim zu halten versteht wie vor ihren Arbeitgeberinnen. Während die drei Frauen in "Glas" durch verwandtschaftliche Bande eng verknüpft sind, kennen sich Mary und Becky überhaupt nicht. Das Bindeglied zwischen ihnen ist Leila. Sie recherchiert für ein Buch über Becky, und lässt sich, vermittelt über ein Reinigungsunternehmen, von Mary die Wohnung putzen. Piercy zeichnet drei sehr unterschiedliche Charaktere, die einander - soweit sie sich kennen - durchaus nicht immer grün sind. Weder Mary noch Becky hegen besondere Sympathien für Leila, die stets zu verstehen und zu helfen sucht.

Piercy meistert den vielschichtigen und komplexen Stoff beider Bücher mit bewundernswerter Souveränität. Das erstaunt allerdings nicht weiter, wenn man ihr Opus Magnum "Menschen im Krieg" kennt, ein nahezu 1.000 Seiten umfassendes monumentales Werk mit nicht weniger als zehn ProtagonistInnen, unter denen sich diesmal auch vier Männer befinden. Der - im amerikanischen Original bereits 1987 und in Deutschland erstmals 1995 erschienene - Roman, dessen Handlung sich vom Überall auf Frankreich bis in die Wochen nach den Atombombenabwürfen erstreckt, wurde 2001 neu aufgelegt. Aus der Perspektive ihrer über Europa und die USA verstreuten Figuren zeichnet die Autorin ein Panorama jüdischer Lebenswelten zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Ihre ProtagonistInnen kämpfen als Marineinfanteristen im Südpazifik oder in der jüdischen Resistance, sie dechiffrieren in Washington den japanischen Geheimcode, sie sind Literatinnen, die als Kriegsreporterinnen unterwegs sind, und Studentinnen, die in einer Detroiter Fabrik, ihr Studium finanzieren müssen, sie sind waghalsige Pilotinnen und kluge Wissenschaftlerinnen - und sie alle sind durch ein vielfältig verflochtenes Gewebe familiärer und freundschaftlicher Beziehungen miteinander verbunden.

Piercy zeigt das Überleben und Sterben in den Bombennächten Londons und in den KZs Auschwitz und Bergen-Belsen, sie zeigt die Rassenunruhen von Detroit und den Sexismus der amerikanischen Arbeitswelt. Bei all dem spielt Piercy wiederholt mit den Geschlechterrollen und nutzt ihre Versiertheit in der Gender-Theorie, ohne dass das je anachronistisch wirken würde. Denn die Autorin verlässt nie die Perspektive ihrer Figuren und nie weiß sie mehr als ihre ProtagonistInnen.

Piercys Figuren sind nicht bloß Funktionen der Geschichte oder gar TrägerInnen einer Botschaft. Sie leben und atmen, und in ihren Adern pulsiert wirkliches Blut; sie erstarken auf der Flucht und im Widerstand, sie verrohen im Inselkampf, sie sind voller Hoffnung und Verzweiflung, stark und verletzlich, sie genießen das Glück der Liebe, und sie sind ihrem Fluch ausgesetzt. Sie sind so verschieden und so widersprüchlich wie Menschen eben sind - auch im Krieg.

Piercy hat mit "Menschen im Krieg" ein überwältigendes Buch geschrieben, das einen auch dann noch nicht los lässt, wenn man es schon lange aus der Hand gelegt hat, ein Buch, das einen trauriger aber auch reicher zurück lässt. Ein Buch, das Bestand haben wird.

Titelbild

Marge Piercy: Menschen im Krieg. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Heidi Zerning.
Argument Verlag, Hamburg 2001.
985 Seiten, 15,50 EUR.
ISBN-10: 3886194787
ISBN-13: 9783886194780

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Marge Piercy: Sehnsüchte. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Heidrun Schwarz.
Heyne Verlag, München 2001.
766 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3453177274

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Marge Piercy: Stufen aus Glas. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Christine Strüh.
Heyne Verlag, München 2001.
496 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-10: 3453199359

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