Leben auf der Flucht

Jan Lustigs Protokoll einer Emigration

Von Astrid MehmelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Astrid Mehmel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Emigration will gelernt sein." Als Jan Lustig diesen Satz am 24. Juni 1940 in seinem Tagebuch notiert, ist er bereits das zweite Mal vor den Nationalsozialisten auf der Flucht. Schon 1933 war der 1902 in Brünn geborene Autor und Journalist von Berlin nach Paris geflohen. Dort fand er sich wieder im Hotel Ansonia zusammen mit Friedrich Hollaender, Peter Lorre, seinem Freund Billy Wilder und anderen, allesamt Emigranten, die Filmgeschichte schrieben. Wilder hatte er schon in Berlin durch seine Arbeit als Redakteur bei Ullstein kennengelernt - eine folgenreiche Freundschaft. Wie kaum einem anderen Flüchtling war es Lustig möglich, in Paris Emigration zu lernen. Sprachbegabt wie er war, gelang es ihm, bereits seit 1934 erfolgreich Drehbücher auch für den französischen Film zu schreiben. Welchen Einblick er in die Gefühlslage seiner "neuen" Landsleute hatte und wie sehr er sich selbst dort zu Hause fühlte, zeigt seine hintergründig ironische Kritik an den Franzosen. Politisches Weltgeschehen setzt er in Beziehung zum eigenen Alltag. Die Absurdität dessen, was für so viele Menschen lebensbedrohlich war, wird deutlich in Vermerken wie diesem vom 18. März 1940:

"Hitler und Mussolini treffen sich auf dem Brenner, um die Welt aus den Angeln zu heben. Sie sprechen zweieinhalb Stunden miteinander. Diese zweieinhalb Stunden habe ich gebraucht, um auf dem Quais eine sehr seltene Zola-Ausgabe zu suchen und zu finden. Ein historischer Tag. Das Papier ist einzigartig schön und der Druck hinreißend."

Lustig beginnt sein Tagebuch am 1. Januar 1940; bis zur Flucht aus Paris am 9. Juni in letzter Minute mit Frau und Hund, als die Deutschen in die Stadt einmarschierten, reflektiert er vornehmlich über das alltägliche Leben, über französische Literatur und Lebensart sowie über Privates. Der Leser erfährt etwa, dass seine Geliebte mit ihrem Mann Paris noch vor ihm mit Ziel Südamerika verlässt. Seine Flucht führt ihn zunächst nach Südfrankreich, über Bordeaux, führt ihn nach Spanien, nach Portugal und wird ihn letztendlich in die Vereinigten Staaten bringen. Auf der Flucht überwiegen die Beschreibungen verängstigter Menschen, deutscher und anderer Emigranten auf überfüllten Bahnhöfen. Niemand weiß, ob Züge diese noch verlassen werden; überfüllte Züge, in denen man besser nicht zu erkennen gibt, dass man Deutsch spricht; die quälende Situation vor den Konsulaten in Bordeaux, wo die Erschöpften zu Tausenden darauf warten, Frankreich verlassen zu können; die deutschen Besatzer nur wenige Kilometer entfernt im Rücken; Tragödien spielen sich ab, die letzten Wertsachen werden allein gegen die Hoffnung auf eine Fluchtmöglichkeit getauscht; viele, die den Druck nicht mehr aushalten, bringen sich um.

"Emigration will gelernt sein." Als Jan Lustig diesen Satz notiert, hat er endlich die spanisch-portugiesische Grenze überquert und glaubt sich seinem Ziel zum Greifen nahe. Doch eine Kleinigkeit, das banal erscheinende Eingehen auf den gut gemeinten Rat eines Mitreisenden, nämlich einen späteren Zug in Richtung Lissabon zu nehmen, lässt ihn mit anderen Flüchtlingen in Figureia da Foz stranden. In dem kleinen Küstenort sind sie interniert und ohne Möglichkeit, zu den Konsulaten und Behörden nach Lissabon vorzudringen, abgeschnitten von jeder Möglichkeit zur Flucht. Mit dem scharfen Blick des Drehbuchautors für das allzu Menschliche beschreibt Lustig die tragischen, absurden Situationen, denen die Menschen ausgesetzt sind und sich aussetzen: wieder Warten, Warten auf die Chance nach Lissabon zu gelangen, Warten auf ein Visum. Aufgestaute Emotionen in der verordneten Bewegungslosigkeit führen zu Egoismus und Erschöpfung, zeigen das moralische Elend der Situation. Endlich doch zu einem Konsulat vorgedrungen, erweist sich das Leben einmal mehr für Lustig als ein "Rosenkranz von Glücksfällen": Er und seine Frau bekommen nur deshalb ein Visum, weil jemand sich begeistert an eine Szene aus einem seiner Filme erinnert. Mit Lustigs Ankunft in Kalifornien im Dezember 1940 endet das Tagebuch. Durch das kompetente Nachwort des Herausgebers, dem Literaturwissenschaftler Erich A. Frey und durch die umfangreiche Filmographie Stefan Drößlers, erhält der Leser nicht nur einen bewegenden Einblick in das Leben auf der Flucht, sondern erfährt auch, dass Lustig zu den wenigen Emigranten gehörte, die in Hollywood erfolgreich sein konnten. Er verdankte dies seinem Sprachtalent, seiner Fähigkeit sich auf das Neue einzulassen, aber auch den in Hollywood etablierten Freunden aus Deutschland. Dies alles machte es ihm möglich, auch hier die Emigration zu lernen.

Titelbild

Jan Lustig: Ein Rosenkranz von Glücksfällen. Protokoll einer Flucht.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Erich A. Frey. Filmographie von Stefan Drößler.
Weidle Verlag, Bonn 2001.
100 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3931135594

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