"Herr Reich-Ranicki, in unserem Verhältnis bin ich der Jude"

Martin Walsers "Tod eines Kritikers" und das Antisemitismus-Spiel in den deutschen Feuilletons

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

1.

Das Reden über die Vergangenheit in Deutschland scheint konjunkturellen Regularien zu gehorchen. Dass dabei zunächst die Geistes- und Sozialwissenschaften die adäquate Herberge für diese Streitkultur abgaben, versteht sich von selbst. Mit dem politischen Akt der Vereinigung beider deutscher Staaten hat die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit eine neue Qualität erreicht. Vergangenheit vergeht offenbar nicht ohne weiteres und fordert stattdessen stets ihre Wiederkehr. Dass sich dabei die institutionelle Sphäre der Wiederkehr geändert hat, lässt sich schon daraus ersehen, wie sehr die einst fest eingehaltenen Grenzen des akademischen Diskurses in der Zwischenzeit aufgebrochen worden sind. Mit dem Historikerstreit als Initialzündung verließen die Debatten die universitären Mauern, siedelten sich im Reich des gehobenen Feuilletons an und setzen sich zum großen Teil in diesem fort. Man ist fast geneigt zu sagen, dass alle Kontroversen solchen Ausmaßes heute nicht mehr auf diese neue Art von "Öffentlichkeit" verzichten zu können glauben. Auf der einen Seite hat dies zweifelsohne sein demokratisch Gutes und zeugt von der Ausbildung einer veränderten politischen Kultur; andererseits ist aber auch nicht zu verkennen, dass dieser Vorgang eine durch die immanente Logik kulturindustrieller Vermittlung angetriebene "Banalisierung des Bösen" zeitigen kann; dass, wie der Frankfurter Soziologe Detlev Claussen mehrfach hervorgehoben hat, "die Geschichte von Auschwitz zu einem Material wird, zu einem Rohstoff, mit dem sich genauso gut Politik machen lässt wie mit einer Wahlkampfspende", ist mehr als bedenklich. Denn es geht in diesem Kontext nicht nur um das Problem der durch inflationären Gebrauch entstehenden "Veralltäglichung" des Unsäglichen bzw. der Trivialisierung des Monströsen durch die Zerredungsroutine, sondern um die bewusste, wohl kalkulierte Anlegung der Debatte, die geplante Anzettelung des potentiellen und aus ökonomischer Sicht auch gewollten publizistischen Eklats. "Diese ganzen Zeitungsdebatten", vermerkt Claussen - einerlei ob sie von der Zeit oder der F.A.Z. angezettelt werden - folgen dem Schema, zuerst eine starke These zu formulieren, die als Tabubruch gelten kann, und dann zehn Intellektuelle ihre Zähne daran schärfen zu lassen: "Aber man kriegt nie irgendwo Fleisch zu sehen." Es scheint, als sei mittlerweile das Sagen und die Darstellung selbst zur Ware, zum strategisch geplanten Vermarktungsobjekt geworden. Claussen spricht von einem inzwischen entstandenen "riesigen Artefakt namens 'Holocaust'", an dem niemand mehr vorbeikomme, der etwas zu dem wirklichen Ereignis, der Massenvernichtung der europäischen Juden, zu sagen hat: "Auschwitz ist im letzten Jahrzehnt hinter dem massenmedialen Produkt 'Holocaust' verschwunden."

2.

Fünf große Streitdiskurse hat es im wiedervereinigten Deutschland gegeben: die Mahnmal-Debatte, die Goldhagen-Debatte, den Streit um die Wehrmachtsausstellung, die Walser-Bubis-Debatte und die Finkelstein-Debatte. Im Rahmen der Goldhagen-Diskussion bestand vor allem Frank Schirrmacher darauf, dass es sich bei der Rezeption seines Buches in Deutschland um ein "Medienphänomen auf dem Gebiet der Wissenschaft" handle, um ein mit Vorbedacht inszeniertes Ereignis also, ganz und gar angelegt, das Werk in den Historikerstreit einzuordnen, weshalb es denn sofort eine "politische Akzentuierung" erfahren hat, darüber hinaus aber auch eine Brisanz, die "auf die unangemessene Sensationslust einer auf Katharsis zielenden Welt der Talkshows zurückzuführen" sei. Nun ist Schirrmacher selbst zum Initiator eines neuen Medienspektakels geworden, eines schmutzigen Spiels um den Vorwurf des Antisemitismus in Martin Walsers bislang noch unveröffentlichtem Roman "Der Tod eines Kritikers". Ausgangspunkt der Debatte ist Schirrmachers Entscheidung, den ihm zum Vorabdruck angebotenen Text in der F. A. Z. zurückzuweisen und dem Autor in Form eines im Feuilleton publizierten offenen Briefes zu antworten. Dort geißelt Schirrmacher den Roman als "Dokument des Hasses", als "Mordphantasie", die nicht einen x-beliebigen Kritiker treffe, sondern mit Marcel Reich-Ranicki einen Überlebenden des Warschauer Ghettos. Vor allem aber werde diese verbale "Exekution" des ehemaligen Literaturchefs der F. A. Z. durch das unübersehbare "Repertoire antisemitischer Klischees" untermalt. Von besonderer Prägnanz ist in diesem Zusammenhang, dass dieses Feuilleton über Jahrzehnte Walsers Romane in Fortsetzungen druckte, ihn in unzähligen Interviews zu Wort kommen ließ, als Rezensenten und Essayisten beschäftigte und im unsäglichen Streit mit Ignatz Bubis zuerst unterstütze und später - gemeinsam mit Salomon Korn - moderierte. Noch in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 schrieb Schirrmacher: "Walser zeigt, was es heißt in einer Geschichte zu leben, deren Ende man nicht kennt. Also zeigt er, was es heißt, in der Gegenwart zu leben. [...] Will also einer geheilt werden von der Ansteckung durch die Ideologien, konsultiere er Walsers Literatur. Man muß es ja nicht nur bei ihm versuchen, aber man sollte die Chance nicht verpassen. Es gibt viele, die auf diese Heilung schwören, auch wenn Walsers Methoden zugegebenermaßen unorthodox sind. Man muß in Kauf nehmen, daß man verwandelt erwacht; es fröstelt einen zuweilen, und das Leben wird riskanter. Könnte sein, man setzt sich selbst dabei aufs Spiel. Aber: Lesen wird wieder zum Vergnügen. Und das Atmen auch." In einem Artikel vom 17.6.1999 hat Schirrmacher prophylaktisch die mögliche kritische Beschäftigung mit Leben und Werk Walsers als "Techniken der sozialen und intellektuellen Stigmatisierung" charakterisiert und die politische Reaktion auf dessen Paulskirchen-Rede kulturpessimistisch als Auraverlust dichterischer Größe gedeutet: "Vielleicht erleben wir hier, daß Biographie nichts mehr bedeutet, vielleicht werden wir gerade die leicht gelangweilten Zeugen des Zerfalls von so pathetischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts wie Lebenswerk und Werkbiographie".

Damit ist es nun vorbei. Folgt man der Diktion von Schirrmachers Philippika, dann wäre jeder, der Walsers jüngsten Roman nicht für antisemitisch hält, selbst ein Antisemit. Thomas Steinfeld erkennt in dem Vorgehen Schirrmachers eine "Hermeneutik und Philologie des Verdachts". Sein offener Brief unterstelle, wie Steinfeld in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung vom 4.6.2002 schreibt, "die Evidenz des Urteils, das er fällt: Alle, die diesen Text lesen werden, so die Suggestion, werden sich meinem, dem Urteil des Anklägers, anschließen müssen. [...] Die deutschen Literaturkritiker beugen sich jetzt zuhauf über dieses Manuskript. Die meisten haben sich über Nacht in Experten für den Antisemitismus verwandelt. Sie studieren diesen Text wie Pornographen einen angeblich erotischen Roman." Schirrmachers offener Brief, so Steinfeld weiter, "ist das Extrem einer Skandalisierung. Und er ist zugleich selbst Skandal." Derzeit müsse sich vor allem Martin Walser immer neu rechtfertigen, "nicht aber derjenige, der ihn an den Pranger gestellt hat". Walser selbst dreht in einem Interview mit der tageszeitung den Spieß kurzerhand um: Für ihn nun ist jeder ein Antisemit, der seinen Roman für antisemitisch hält. Schließlich gehe es in seinem Text "nicht um einen Juden, sondern um einen Kritiker". "Das Buch erzählt die Erfahrungen eines Autors mit Machtausübung im Kulturbetrieb zur Zeit des Fernsehens." Es sei auch ein Buch "über das Schicksal der Poesie unter den Bedingungen des immer rauer werdenden Kulturbetriebs." Warum Schirrmacher dieses Thema auf den Holocaust beziehe, wisse er nicht, heißt es ferner. "Ich hätte nie, nie, niemals gedacht, dass jetzt dieses Buch auf den Holocaust bezogen wird. Verstehen Sie, dann hätte ich das Buch nicht geschrieben", unterstrich Walser in einem Interview mit dem NDR-Kulturjournal "Texte und Zeichen" und präzisierte: "Ich schreibe über die von Party zu Party taumelnde Kulturbetriebslandschaft und davon, dass es zu einem enormen Star und fröhlichen Menschen nicht passt, umgebracht zu werden. Es passt nicht, und daraus wird gemacht, ich hätte gesagt, getötet zu werden oder den Holocaust zu überleben sei eine Charaktereigenschaft. Wenn Sie alle Sätze, die irgendwo geschrieben werden, immer projizieren auf den Hintergrund Holocaust, dann werden ziemlich viele Sätze sehr komisch wirken."

Unverkennbar ist jedoch, dass sich hinter dem Text Walsers wie auch hinter der von Schirrmacher lancierten Anklage des literarischen Hochverrats vor allem verletzte Eitelkeit, schnöde Machtgier und Rachsucht verbergen. Nicht nur in der Debatte um die politisch und ethisch fraglos inkorrekten und intellektuell stumpfen Äußerungen Jürgen W. Möllemanns, sondern auch und vor allem im 'anschwellenden Bocksgesang' um Martin Walser wird in den jeweiligen Presseorganen derart inflationär mit dem Terminus Antisemitismus umgegangen, dass hinter dem Signifikanten das Signifikat endgültig zu verschwinden droht und selbst nur noch ein Artefakt bleibt. Es scheint, als habe die Literaturkritik den Skandalstil der Literatur adaptiert, wenn sie sich nur noch im Schreiben und Weiter-Schreiben von Gerüchten und Verdächtigungen hinsichtlich der Beziehungen zwischen Walser und Reich-Ranicki, über die ebenfalls schon einige Zeit währende Beziehung zwischen Walser und Schirrmacher, über Unseld und die Suhrkamp-Kultur betätigt und damit Geschichten weiter trägt, aus denen wiederum der Stoff des Romans von Walser direkt und indirekt besteht. Das Fatale solcher gegenseitigen Beschuldigungen liegt möglicherweise noch nicht einmal in den gezielten Diffamierungen der contentionis personae, sondern in der inflationären Entwertung des schwerwiegenden Vorwurfs: Wenn affektgeladen, leichtfertig und gewissermaßen aus taktischen Überlegungen bald dieser und bald jener des Antisemitismus verdächtigt wird, kann es nicht lange mehr gehen, und unser Sensorium und Unterscheidungsvermögen in Fragen des Antisemitismus wird auf Dauer beschädigt sein. Ilse Aichinger empfiehlt in ihrem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung vom 8.6.2002 mit dem Wort Antisemitismus sparsam umzugehen: "Martin Walser ist eine Art Freiwild geworden. Er greift, wie ich sein Buch verstehe, im Kritiker aber nicht die Juden oder den Juden an, und keiner wird getötet oder dazu aufgefordert zu töten. Es geht um Machtübergriffe, von wem immer. Verständlich ist es trotzdem, dass, wer früh zum 'Abschaum' gezählt hat, hier empfindlich bleibt. Frühe Verletzungen heilen nur im Glücksfall und springen gerade spät wieder auf, auch bei Marcel Reich-Ranicki." Der Historiker Götz Aly fordert in seinem Artikel vom 6.6.2002 in der Zeit, erst nach "Würdigung aller Fakten" darüber zu befinden, ob und in welchem Maß hier Antisemitismus im Spiel sei oder nicht. Darüber hinaus, so darf noch unterstrichen werden, muss zwischen dem an die Adresse Martin Walsers gerichteten Vorwurf des Antisemitismus und der Analyse möglicher antisemitischer Intertexte im Gewebe des Romans, also auf der Ebene des Textes selbst, unterschieden werden. Wer das nicht beachtet, dreht das Rad der Literaturtheorie an den Anfang des 20. Jahrhunderts zurück.

3.

Zunächst und vor allem: Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers" ist ein literarisch schwaches und sprachlich über weite Strecken schwer erträgliches Satyrspiel über die kulturindustrielle Zurichtung von Literatur. Die wenigen scharfsinnig-boshaften Beobachtungen und amüsanten Passagen verschwinden hinter einer Melange aus Abgeschmacktheiten und Rachsucht. Sein Personal besteht ausschließlich aus überzeichneten, lächerlichen oder blassen Gestalten. Hauptfigur des Romans ist der Starkritiker André Ehrl-König, eine Reprise des Kritikers Willi André König aus Walsers Roman "Ohne einander" (1993), in dessen Umarmung Schriftsteller und Texte erlöschen. Niemand wird umhin können, von Ehrl-König, der in Walsers neuem Roman als "Michelinmännchen", "Fürst der Aufgeblasenheit", "Marionette der Egomanie", "Fernsehlarve" und als "Totengräber der deutschen Literatur" beschimpft wird, an den realen Kritiker Marcel Reich-Ranicki erinnert zu werden. Auch das weitere Personal ist entweder ebenso unmittelbar in seinen Vorbildern zu erkennen oder ganz ohne erkennbares Vorbild. Diese Einteilung in karikierende Porträts, erfundene Figuren und deutlich veränderte Gestalten, lässt erkennen, dass der Text hier auf das Vergnügen des Erkennens, die Lust des Voyeurs abzielt. "Tod eines Kritikers" ist eine Mischung aus grober Satire und Kolportage. Der Notwendigkeit halber kurz der Plot: Ehrl-König ist Star der Fernseh-Show "Sprechstunde", in der jeweils ein Buch vernichtet und ein anderes gelobt wird. Nach dem Verriss seines Romans "Mädchen ohne Zehennägel" taucht der Schriftsteller Hans Lach auf einer Party auf, die der Verleger Pilgrim in seiner Bogenhausener Villa zu Ehren des Kritikers gibt. Nach heftigen Auseinandersetzungen und wüsten Beschimpfungen wird Lach aus dem Haus befördert. In derselben Nacht verschwindet Ehrl-König, nicht ohne seinen Jaguar zurückzulassen, darin ein blutbefleckter gelber Pullover. Lach wird verhaftet, Landolf macht sich auf die Suche nach Spuren, um seinen Freund zu entlasten. Nach längerem Schweigen gesteht Lach die Tat und wird in eine psychiatrische Anstalt überführt. Kurz darauf behauptet die Ehefrau des Kritikers, nicht Lach, sondern sie selbst habe ihren Mann getötet. Auf dem Höhepunkt der Maskerade taucht Ehrl-König wohlbehalten wieder auf: Er hat eine lustvolle Woche mit der ihn anbetenden jungen Gräfin und Nachwuchsautorin Cosima von Syrgenstein verbracht. Schließlich flieht der Erzähler mit der Gattin des in der Zwischenzeit verstorbenen Verlegers in deren Liebesnest nach Fuerteventura. Die an Unwahrscheinlichkeiten reiche Handlung treibt gegen Ende des Romans mit einer irrationalen und aberwitzigen Konstruktion auf ihren Höhepunkt zu, wenn Walser die Identität des Erzählers Michael Landolf mit seinem Freund Hans Lach offenbart.

Betrachtet man den Binnenraum des Textes, so scheinen alle antisemitischen Zuschreibungen dadurch konsequent entgiftet und relativiert zu werden, dass sie einzelnen Figuren in den Mund gelegt und als verächtlich charakterisiert werden. Die überwiegende Mehrzahl sind schriftstellernde Opfer Ehrl-Königs, larmoyante Schwätzer, die ihren Rachephantasien Raum geben. Das Thema Judentum wird auf den 153 Manuskriptseiten nur zwei Mal explizit angesprochen. Zunächst droht Hans Lach Ehrl-König mit dem abgewandelten Hitler-Zitat: "Ab heute Null Uhr wird zurückgeschlagen." Der Erzähler lässt den Ausspruch jedoch nicht unkommentiert: "Diese Ausdrucksweise habe unter den Gästen [...] mehr als Befremden, eigentlich schon Bestürzung und Abscheu ausgelöst, schließlich sei allgemein bekannt, daß André Ehrl-König zu seinen Vorfahren auch Juden zähle, darunter auch Opfer des Holocausts." Im letzten Drittel des Buches - nachdem der Literaturkritiker angeblich ermordet wurde - wird das Motiv noch einmal aufgenommen: "Das Thema war jetzt, daß Hans Lach einen Juden getötet hatte", heißt es da. Auf gut einer Manuskriptseite beschreibt Walser verschiedene Positionen einer Feuilleton-Debatte, ob "in Deutschland die Ermordung eines Juden ein Faktum ganz anderer Art sei als in jedem anderen Land der Welt." Sofort beginnt ein hitziger Streit, bei dem der Vorwurf des Antisemitismus das einzig verbindende Glied zu sein scheint. Diese Passage wirkt wie die Vorwegnahme der jetzigen Debatte. Ebenso wie hier geht es um die mediale Inszenierung eines Skandalons, nicht um die unvoreingenommene Prüfung der Tatsachen. Gegen Ende des Romans gibt der Erzähler in guter Walserscher Manier Einblick in sein Seelenleben: "Manchmal beherrscht einen das Gefühl, ganz und gar in diesem Mediengewebe aufzugehen. Du bist nichts als ein Teil dieses Mitteilungszusammenhangs. Und es gibt außer diesem Zusammenhang nichts. Du wirst beatmet. Das heißt informiert. Du selber musst nicht mehr leben." Damit ist Walsers Roman implizit auch der Roman einer selbst antizipierten Debatte, die nun durch die Feuilletons tobt. Gleichwohl ist er als selbstreferentielles Artefakt, so beklagenswert die literarische Qualität auch sein mag, nicht antisemitisch. Dies wäre erst dann der Fall, wenn sich Walser statt des Romans der Form des Essays oder einer anderen nicht-fiktionalen Gattung bedient hätte und die reale Person Reich-Ranicki kritisiert oder gegen ihn polemisiert hätte, weil er Jude ist. Gleichwohl outriert sich Walsers Roman als Dokument trivialer Rachsucht, mit der er die Gefühlslage eines Mannes verletzt, der mit knapper Not dem Warschauer Ghetto und der Ermordung durch die Nationalsozialisten entkommen ist. Damit soll vice versa aus Reich-Ranicki kein Heiliger des Literaturbetriebs gemacht werden, dessen selbstgerechte Vernichtungsurteile, cholerische Hassausbrüche und mediale Selbstinszenierungen immer wieder Anlass zur Kritik gaben und sicherlich auch zukünftig geben werden. Auch gegen eine gut geschriebene fulminante Satire auf den Kritiker Reich-Ranicki und die sich aufplusternde Macht des Literatur- und Medienbetriebs wie sie jetzt vielleicht Bodo Kirchhoff mit seinem "Schundroman" (Frankfurter Verlagsanstalt) liefern wird, wäre nichts einzuwenden. Aber Martin Walser hat sie definitiv nicht geschrieben.

Das vielfach erörterte Argument, es handele sich im Roman insgesamt um eine antisemitische Atmosphäre, bei der die gängigsten Klischees in Nebensätzen untergebracht würden, bleibt dennoch zu erörtern. Thomas Assheuer sieht in seinem Beitrag in der Zeit vom 6.6.2002 antisemitische Klischees in der Konzeption der Figur Ehrl-Königs: "Von seinem Jüdischsein macht er kein großes Aufheben, dafür ist er von Eitelkeit zerfressen, von keiner Mutter geliebt, intrigant und klein von Wuchs. Im Grunde, sagen viele Figuren, ist Ehrl-König nichts anderes als eine Mischung aus Sex und Intellekt. Weil er nichts Ureigenes hat, keine Tradition, saugt er an der deutschen Kultur und lässt sich von einem verirrten Linksprotestanten, den Walser als Walter Jens kenntlich macht, geistig durchfüttern." Hörbar wird hier das Leitmotiv von Richard Wagners Aufsatz über "Das Judentum in der Musik": der Jude als Parasit der Kultur, als erfolgreicher Imitator; eine Verunglimpfung, gegen die etwa auch Paul Celan in der skandalträchtigen "Goll-Affäre" anzukämpfen hatte und die ihn letztlich in den Selbstmord trieb. Viele Sätze, die den verkannten Dichtern in den Mund gelegt werden, gleichen völkischen Positionen über das "verjudete" Feuilleton. Ein Beispiel für das Ineinandergreifen pressekritischer, modernekritischer und antisemitischer Argumentation ist - neben vielen anderen - die 1920 in der zweiten Auflage erschienene Abhandlung Joseph Ebereles "Großmacht Presse". Für ihn sind der ausgeprägte "Sensualismus", die "Schamlosigkeit", der "sexuelle Laxismus, die vielfache sexuelle Verwilderung" der jüdischen "Rassengemeinschaft, die sich nie ganz zum Ideal der Keuschheit und Scham erhoben" habe, für den Niedergang der Moral in Literatur und Literaturkritik verantwortlich. Zudem trage der jüdische Hang zu Realismus und Naturalismus zur Entmystifizierung und Entromantisierung der modernen Welt bei. In diesem Zusammenhang darf immerhin vermerkt werden, dass in Walsers Roman der jüdische Kritiker die ureigenen deutschen Werte lächerlich gemacht und Hölderlin vom Sternenhimmel geholt habe. Willkürlich trifft er eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen guter amerikanisch-jüdischer Zivilisationsliteratur (der neue Roman des jüdischen Romanciers Philip Roth wird als positives Beispiel dem in Innerlichkeiten verstrickten Roman Hans Lachs gegenübergestellt) und schlechter deutscher Literatur. Ein weiteres antisemitisches Klischee, die Neigung jüdischer Feuilletonisten zu "übermäßiger Kritik", zu "zersetzender Negation", spiegelt sich in der Ehrl-Königs "Herabsetzungslust" und "Verneinungskraft". Walsers Unschuldsbekundungen in diesem Zusammenhang klingen absurd. Er hätte wissen müssen, in welch braunen Wassern er hier fischt.

Seine geschmacklose Tiefe gewinnt der Roman aus der durchgängigen Sexualisierung des Starkritikers. Besonders unangenehm ist die Passage, wo der Autor die alkoholisierten Ehrl-König-Opfer im Chor lallen lässt: "Man müsste mit den Kameraleuten reden, dass die ihm einmal mit dem Zoom aufs Mundwerk fahren, daß endlich mal das weiße Zeug, das ihm in den Mundwinkeln bleibt, groß herauskäme, der vertrocknete Schaum ...Scheißschaum, gellte Bernd Streiff, das ist sein Ejakulat. Der ejakuliert doch durch die Goschen, wenn er sich im Dienst der doitschen Literatur aufgeilt. Der Lippengorilla, der elendige." Dabei verdeckt die abfällige Charakterisierung des jüdischen Kritikers als alter, widerlicher Lüstling geradezu die "bedenkliche Nähe dieses Textes zu kulturhistorischen Konstruktionen des jüdischen Körpers als des anderen Körpers", worauf Elke Brühns in ihrem Beitrag für die tageszeitung vom 8./9.6.2002 aufmerksam macht. Die Partialisierung des 'jüdischen' Körpers im antijüdischen Rassismus, die gesonderte Vermessung 'jüdischer' Nasen, Lippen, Ohren, Füße, 'jüdischen' Haares, bis hin zu 'jüdischen' Stimmen und 'jüdischem' Geruch und die Praxis, auf der Basis einer 'wissenschaftlichen' Theorie reale oder imaginäre physische Differenz als 'jüdische Andersheit' zu stigmatisieren und negativ zu attribuieren, machten aus den Juden den sichtbarsten Fremden und den Prototyp der Ambivalenz im 19. und 20. Jahrhundert. In die gleiche Kerbe schlägt auch die Kolportage Rainer Heiner Henkels im Roman, Ehrl-Königs sexuelle Vorlieben konzentrierten sich vor allem auf "Mädelchen, aber wenn's keine gab, nahm er auch Mädels. Frauen findet er langweilig. Unzumutbar. Besonders doitsche. Weibliches plus Schicksal, zum Davonlaufen!" Zudem wird von "Ehrl-Königs sexuelle[r] Delikatesse" berichtet, mit "Schwangere[n] bis zum dritten Monat" Geschlechtsverkehr zu haben.

In einer auf das Jahr 2084 datierten "Notiz aus der Überlieferung des Zukünftigen" wird das Thema des Romans, die Vernichtung der Autoren im Medienbetrieb, unter biopolitischen und sexualästhetischen Vorzeichen noch einmal surreal überzeichnet. Die dank des Einsatzes von Stammzellen und "High Performance Genen" alterslose Menschheit, in der "jeder seinen Spermienbedarf beziehungsweise seine Ejakulationsfrequenzen beliebig regeln" kann, lebt in der Kultur grenzenloser Ejakulationen und Orgasmen. "Mit der E-O-Kultur wurde das Schreiben in bestimmten Kreisen epidemisch. Dadurch wurden die Kritiker wichtiger, als sie je gewesen waren, wichtiger als die Schreibenden. Je mehr geschrieben wurde, desto weniger wurde gelesen. Als die E-O-Kultur global blühte, hatten einundsiebzig Prozent der Bevölkerung aufgehört zu lesen oder es gar nicht erst angefangen. Die Kritiker, jetzt Kritoren genannt, wußten noch, was einmal Literatur gewesen war. Daß sie noch lesen konnten, verschaffte ihnen eine Art religiöser Gewalt. Daß aus nicht mehr als 24 Buchstaben soviel Verschiedenes zusammengesetzt werden konnte, wie die Kritoren, wenn sie über diese Buchstabengebilde stritten, vermitteln konnten, war atemberaubend." Höhepunkt dieser E-O-Kultur ist die Livesendung "Gläserne Manege", in der "Schriftsteller in Kabinen [saßen] und von ihren Head-Tops [lasen], was sie geschrieben hatten." Über ihnen befanden sich die "Großen Vier": "Der Aal, der Affe, die Auster und Klitornostra oder die Feuerraupe. Auf riesigen Bildschirmen sah man, wie die Großen Vier unter den Lesungen litten oder jubilierten. Es gab nur Leiden oder Jubilieren. [...] Der Aal war der unübertreffbare Meister in beidem. Der Affe, die Auster und Klitornostra wußten, daß sie nur auftreten konnten, solange der Aal auftreten konnte." Unter Absehen von literarischen Qualitäten wurde "der Wettbewerb der Lesenden öfter ein Wettkampf im Auffallen. Wenn sich einer ein Kreuz in die Stirn schnitt, holte ihn natürlich die Regie sofort auf den Riesenschirm. Auch Onanieren kam vor. Aber nur der erste, der vor laufender Kamera lesend onanierte und ejakulierte, bekam den Publikumspreis. Dann auch die erste Autorin, die das öffentlich hinkriegte. Der Affe ließ sich von dem onanierenden Autor fast hinreißen, selbst Hand an sich zu legen. Oder tat es doch. Ebenso Klitornostra, als eine Autorin sich selber bediente. E- und O-Kultur at it's best, meldeten die news." Besonders der Körper des Aals ist zur Messlatte literarischen Erfolgs geworden: "Der Aal ließ, während er litt oder jubilierte, sein Geschlechtsteil zoomen. Und was dann zu sehen war, war Wirkung von Literatur." Die Sexualisierung der Literaturkritik in dieser Passage verweist fraglos auf den hinlänglich bekannten Konflikt Reich-Ranickis mit Sigrid Löffler im "Literarischen Quartett" über ein Buch Haruki Murakamis, den der Kritiker dazu benutzte, die literarkritische Ebene zu verlassen und die sexuelle Sprache des Romans gegen die Person der Konkurrentin selbst zu verwenden.

Ich kann in Walsers Roman keinen Hinweis entdecken, der es erlauben würde, den Antisemitismus-Verdacht gegen den Autor aufrecht zu erhalten, erstaunlich und Besorgnis erregend sind allerdings die Verschiebungen, die im Text dazu führen, dass er judenfeindliche Intertexte lesbar werden lässt. Von Walser ist in dieser Hinsicht - ähnlich wie in seiner Debatte mit Ignatz Bubis - kein klärendes Wort zu erwarten. Im Gegenteil: Martin Walser ist ein Meister der Ambivalenz und einer literarischen Navigationskunst, die das Textschiff nahe am Abgrund segeln lässt, ohne es jedoch untergehen zu lassen. Ob bewusst oder nicht - er ist auch ein Spezialist des Undeutlichen, des Raunens widersprüchlicher Stimmen im Text. Die sich aufdrängende Frage, warum Walser seinen Rachefeldzug ausgerechnet im Herzen der Suhrkamp-Kultur austragen musste, von der George Steiner einmal zurecht im "Times Literary Supplement" behauptete, dass sie "die literarisch und intellektuell führende Schicht Deutschlands" bestimme und angereichert sei mit der "Gegenwart jener deutsch-jüdischen intellektuellen und stimulierenden Kraft [...], welche der Nazismus auslöschen wollte", lässt sich vielleicht nur aus der psychischen Disposition des Autors erklären.

Walser gehört zweifelsohne zu jenen Schriftstellern, die das Spiel im Licht der Scheinwerfer und des gedruckten Wortes bevorzugen, die Werk und öffentliche Person mediengerecht zu inszenieren und zu stilisieren imstande sind. Klaus-Michael Bogdal hat in diesem Zusammenhang vermutet, dass Walser das fehlende singuläre Werk, das Grass mit der "Blechtrommel" oder Lenz mit der "Deutschstunde" geschrieben haben, "durch die kontinuierlichen, Person, Werk und öffentliche Repräsentativität verbindenden Selbstinszenierungen substituiert" habe. An den furor poeticus etwa erinnern Walsers Äußerungen, Schreiben vollziehe sich, wenn es authentisch ist, jenseits der Moral. In einem Beitrag für die Zeit vom 30.9.1999 heißt es vielsagend: "Nicht schlecht ist es, wenn du beim Schreiben nicht mehr weißt, was das wäre: rücksichtsvoll sein; vor allem gegen dich selbst. Es muß dir durch und durch gut tun, rücksichtslos zu sein. Gegen dich und alle. Aber nicht bösartig. Bösartig sein, heißt zielen, zielsüchtig sein: bösartig sein verkürzt die Wege, die das Schreiben, wenn es von keinem Ziel weiß, zu einer Art Seligkeitspraxis werden lassen. Was man in sich hat, weiß man nie. Man erfährt es durch Schreiben. [...] Schreibend weiß man nicht, was Gut und was Böse ist." Walsers an Foucault erinnernde Strategie einer "écriture de soi" muss jedoch die Wahrheit immer wieder bekennen, zumindest, solange sie das 'Gewissen' belastet. In dem von Klaus Siblewski herausgegebenen Band "Martin Walser: Auskunft. 22 Gespräche aus 28 Jahren" ist folgende programmatische Äußerung zu lesen: "Ich bin ziemlich sicher, jeder, der sich über dieses Papier setzt und schreibt, will sein Innerstes herausbringen. Der will es natürlich für sich herausbringen, aber auch die Öffentlichkeit exponieren. Dieser schöne und schmerzliche Prozeß des Ausdrucks heißt: man kommt mit dem Innersten in das Öffentlichste." Vor dem Hintergrund seines Bildes in der Öffentlichkeit ist auch Walsers poetologischer Versuch von 1974 "Wer ist ein Schriftsteller" zu lesen. Die dort unternommene allgemeine Definition des Autor-Ichs kommt einer Selbstbeschreibung Walsers innerhalb des Literaturbetriebs recht nahe: "Das Ich des Autors ist sozusagen prinzipiell beschädigt. Seine Identität ist fragwürdig, ungesichert." Diese Erfahrung von Beschädigung und Unsicherheit wird, wie Thomas Anz unterstrichen hat, in eine psychoanalytisch inspirierte Theorie vom Schriftsteller als Mangelwesen gewendet. "Bei allen Wandlungen in der politischen Einstellung hat sich an seiner Vorliebe für den literarischen Figurentyps des in seinen Selbstwertgefühlen nachhaltig gekränkten, von realen oder eingebildeten Konkurrenz- und Machtkämpfen geschädigten 'Verlierers' wenig geändert." "Der Tod eines Kritikers" liest sich wie eine Variation jener Themen, die sich Walser seit seiner frühen Erzählprosa thematisiert: Demütigung und Selbstbewusstsein, die Einsamkeit des Verfolgten, der schließlich zum Verfolger wird und zur verfolgenden Unschuld. Es ist eine Studie über die unsichtbaren und sichtbaren Wunden, die dem Schreibenden durch den Literatur- und Medienbetrieb geschlagen werden und der in den Innenraum des Pathologischen fliehen muss, um zu sich selbst zu kommen. Walser selbst scheint seinem Schatten Reich-Ranicki nicht zu entkommen. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 20.9.1998 erklärte er: "Das große Problem von Reich-Ranicki besteht darin, die Literatur zugunsten der Literaturkritik abzuschaffen", woraufhin dieser erklärte: "Das ist ein guter Witz, der mich schallend lachen ließ. Aber Walser, es ist kaum zu glauben, hat den Witz ernst genommen und erklärt: 'Die Autoren sind die Opfer, und er ist der Täter. Jeder Autor, den er so behandelt, könnte zu ihm sagen: Herr Reich-Ranicki, in unserem Verhältnis bin ich der Jude.'" Damals wertete Reich-Ranicki diese Äußerung Walsers als eine "in der Hitze des Gefechts" entschlüpfte "schreckliche und letztlich törichte Formulierung". Nach der unrühmlichen Rolle in seiner Auseinandersetzung mit Ignatz Bubis tritt Walser mit dem Roman "Tod eines Kritikers" erneut den Beweis dafür an, dass seine Texte mehr auf psychische Hemmungslosigkeit als auf geistespolitisches Kalkül zurückzuführen sind. Das ist aber auch das einzig Positive, was es über den Text zu berichten gilt. Was Walser jedoch freuen wird, der kritischen Öffentlichkeit jedoch immer mehr Kopfschmerzen bereitet, ist, dass er dieses schmutzige Spiel um Antisemitismus und mediale Macht nicht allein spielt, er hat Verbündete aus allen Lagern gefunden.

N.B. In der Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 9.6.2002 gibt Maxim Biller einmal mehr eine Probe davon, mit welchem literarischen Raffinement und Esprit man sich dem Feuilleton-Thema der letzten Wochen zuwenden kann. Da es sich hier um einen der wenigen geistreichen Beiträge der letzten Wochen handelt, sei er vollständig zitiert:

"Antisemitismus

Landauer hatte kein Glück mit dem Sex. Egal wie lange seine Gespielinnen brauchten, er kam immer eine Sekunde früher. Als er das erste Mal mit einer Frau schlief, wollte er nicht zugeben, daß er es vorher noch nie gemacht hatte. Aus Unerfahrenheit - und ohne es zu bemerken - verfehlte er sie und durchbohrte mit seinem stahlharten Glied das Laken und die Matratze, die auf dem Boden ausgebreitet war. Er blieb im Parkett stecken, und der Feuerwehrmann, der ihn später aus seiner mißlichen Lage befreite, sagte: ",Alle Achtung, euer Vergeltungsschlag gegen das Hauptquartier der PLO letzte Woche war ja nichts dagegen.'"