Wendezeit

Jana Simons wahres Kapitel zum Thema "Aufbau Ost"

Von Tobias TemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Temming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ihr Lebenssystem in der DDR war einfach: "Gut und Böse waren eindeutig verteilt, das Leben bis zum Tod vorgeplant und vorhersehbar", so die Autorin in ihrem ersten Buch. Doch mit der Wende entsteht ein großer Bruch im Leben vieler Menschen. Die DDR als allmächtige Regelungsinstanz bricht zusammen: Viele neue Freiheiten wurden gewonnen, doch geht weit mehr verloren als lediglich drei Millionen Arbeitsplätze. Die Bürger der DDR wurden damals mit einer neuen Zeit und einem anderen Gesellschaftssystem konfrontiert, auf das keiner sie vorbereitet hatte. Zudem hinterließ der Zusammenbruch des Sozialismus, besonders für die Jugend, ein Wertevakuum, das viele zunächst nicht auszufüllen wussten; das eindeutige Schwarz und Weiß der DDR-Ideologie und der gewohnten Lebenswelt wandelte sich in unendlich viele Graustufen, in denen sich große Teile der Jugend orientierungslos verloren.

Felix S. ergeht es nicht anders: Als Enkel südafrikanischer Flüchtlinge muss er schnell lernen, wie man sich auf den Straßen Ostberlins Respekt verschafft. Nach der Wende trainiert er diverse Kampfsportarten härter und verbissener als alle anderen. Felix wird deutscher Kickboxmeister und sorgt an Berliner Discotüren für Sicherheit. Die brutale Welt der Türsteher, Hooligans und Boxer ist sein Metier. Hier sucht Felix den verlorenen Halt, den die raschen Veränderungen ihm entrissen haben. Hier findet er vermeintliche Freundschaften, Zusammenhalt und Stabilität. Doch es ist eine geschlossene Welt mit eigenen strengen Regeln und heuchlerischer Tugend - wer abweicht, wird gnadenlos bestraft.

Nach außen mimt Felix den harten Straßenkrieger, tut das, "was alle machen": Er ist jemand, für den verabredete Privatschlägereien á la "Fight Club" das Größte sind, dem schnelles Geld, teure Autos und Frauen essentielle Statussymbole bedeuten.

Auf der anderen Seite beschreibt Simon einen Kontrast, wie er stärker nicht sein könnte: In der sicheren Umgebung seiner Großeltern, bei denen Felix aufwächst und die er wegen ihrer marxistisch-idealistischen Vergangenheit bewundert, hört er J. S. Bach, liest Gedichte und schreibt sogar Tagebuch. An Intelligenz fehlt es ihm nicht - könnte er doch mühelos sein Abitur nachholen und seinem Traum vom Studium wahr werden lassen.

Dieser Widerspruch scheint symptomatisch. Felix Charakter ist zwiegespalten wie seine Situation: Er steht immer zwischen Weiß und Schwarz, zwischen neuem Deutschland und altem Osten, unbeugsamen Kriegertum und sensiblem Selbstzweifel. Felix traut sich nicht zu sein, was er ist, zu radikal wäre dieser Bruch mit dem letzten Rest seiner alten Welt. Die Angst, den letzten Rest von Sicherheit und Heimat zu verlieren, ist zu groß; der mögliche Vorwurf von Verrat gegenüber seinen Freunden aus der Szene liegt zu nah. So scheitert Felix an seinen eigenen Prinzipien, zieht sich immer weiter zurück von seinen wirklichen Freunden, seiner Familie und damit von sich selbst und seinen Träumen.

Felix S. verlangt bedingungslose Liebe und doch ist er selbst unfähig zu lieben. Er glaubt an Ehre und Loyalität, doch wird er selbst von "Freunden" verraten, als er sich aus Geldnot immer tiefer in illegale Geschäfte verwickelt. Es sind die gleichen "Freunde", die im Sommer 1998 den französischen Polizisten Daniel Nivel beinahe zu Tode geprügelt haben.

Die Autorin Jana Simon kannte Felix seit seinem 16. Lebensjahr. Mit diesem Buch schreibt sie nicht nur seine Biographie, sondern auch eine Geschichte über die bleierne Zeit der Stagnation der 80er Jahre und über die Generation der Wendekinder der 90er.

Sie selbst hat diese Zeit erlebt und beweist mit ihren gesellschaftlichen Beobachtungen soziologischen Scharfblick. Auch ist diese Biographie ein Versuch, das Leben eines Freundes und die vielen Widersprüche zu entschlüsseln, die sie selbst niemals völlig verstanden hat. Es ist ein melancholisches und einsames Vermächtnis einer verlorenen Existenz, die sich in der neuen Welt nicht mehr zurecht fand und langsam an ihrer eigenen Gegensätzlichkeit zu Grunde ging.

Titelbild

Jana Simon: Denn wir sind anders. Die Geschichte des Felix S.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002.
251 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3871344397

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch