Lesezeichen und Eselsohren

Das Karl Kraus-Symposium Anfang September 1999 in London war der Rezeptionsgeschichte gewidmet

Von Florian EichbergerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Eichberger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem weit gefassten Thema "Karl Kraus und die Nachwelt" entsprechend steht im englisch-/deutschsprachigen Berichtsband manches Überflüssige neben etlichem Guten. Dass Karl Kraus noch immer gewaltig über sein Œuvre herrscht und seine Rezeption bis heute steuert, hat seine Nachwelt bereits vielfach spüren müssen. Die Lektüre verlangt einfach zu viel, so dass sie wie von selbst eine elitäre Leserschaft heranbildet, deren Mitglieder einander gern genau kontrollieren. Es erstaunt bei so wirkmächtigen Texten zunächst, dass diese selbst kaum im Zentrum der Überlegungen dieses Symposiums standen und nur António Ribeiro von der mehr als häufigen Nennung und entsprechend kräftigen Funktionalisierung von "Nachwelt" im Werk selbst ausgeht; er fragt, "inwieweit ein Begriff von Nachwelt für die ,Fackel'-Satire selbst eine strategische Bedeutung besitzt." So sicher und richtig dieser Beitrag ist, so ist er doch viel zu knapp. Man könnte sich diesen Text eher als programmatische Einführung wünschen, doch dann müssten im Rest auch schönere Ergebnisse folgen.

Das Geleitwort der Herausgeber Carr und Timms zeigt statt dessen in erster Linie, dass "im Rahmen eines möglichst breit definierten Rezeptionsbegriffs" gar nicht angestrebt wird, die Beiträge unter einen Hut zu bringen. In der Dreiteilung des Bandes sind dabei die "Fragen der wissenschaftlichen Rezeption" (Teil III) die am klarsten beantworteten. Mit der Kritik an Zeitgenossen wird in dieser Abteilung nicht gespart: Hier skizziert Gerald Stieg solide die - über weiteste Strecken durchaus geringschätzige Kraus-Rezeption in Frankreich; Helmut Arntzen sichtet diejenige des deutschsprachigen Raums. Tatsächlich sollte man meinen, dass eine Rezeptionsphase der Textedition mit ihrer "Beschränkung aufs fleißig eruierte Detail" demnächst abgeschlossen sein sollte. Programmatisch die Aktualität des Werkes betonend fordert Arntzen dieser neopositivistischen Richtung gegenüber eine "intensive Rezeption", wobei von Raddatz bis zum Mitherausgeber Timms manche etwas gesagt bekommen.

Eine ähnliche Richtung schlägt Jay F. Bodine ein, wenn er dem Stand der literaturwissenschaftlichen Theoriebildung die Poetologie der "Fackel" als Prüfstein vorhält. Ob dazu der Kuhnsche Paradigma-Begriff bemüht werden muss, bezweifelt der Rezensent, der es auch so glaubt, dass "much of the newer theory which superseded the formalistic school is, at worst, extremely suspect, or at best, unable to substantiate a valid interpretation or understanding of a text." Wirklich hart trifft es dann die Sparte germanistischer Überblicksdarstellungen österreichischer Litaratur, die Sigurd Paul Scheichl revue passieren lässt - auch wenn es, wie mehrfach beteuert, keine "Razzia auf Literarhistoriker" ist: "Die eigentliche Stärke dieses Literarhistorikers scheint tatsächlich in der Würdigung von Operettenlibretti zu liegen." Die Rede ist von Herbert Zeman.

Dass im Bereich der Edition jedoch weiterhin Wertvolles zu leisten ist, zeigt aufs Schönste Elke Lorenz, die am "Max Kade Center for German-American Studies" der Universität Kansas den Nachlass Albert Blochs gesichtet und dessen Briefwechsel mit Sidonie Nádherny als Dissertation vorgelegt hat. Der Amerikaner Bloch gehört zu den wenigen Korrespondenten, die von Kraus als publizierenswerte Sprecher und Frager anerkannt wurden, und sein Anteil an der "Sprachlehre" ist wohl kaum zu überschätzen. Vielleicht war Bloch bisher auch deshalb so wenig rezipiert, weil er bei Kraus einen Œuvre-Teil besonders schätzte, mit dem die heutige Zeitgenossenschaft besonders wenig anzufangen weiß: die Lyrik, aus der er sogar übersetzte.

Erfreuliche Grundlagenarbeit leistet im "Teil II: Reaktionen der Zeitgenossen" einmal mehr auch Kurt Krolop mit einem Text zur tschechischsprachigen Rezeption, in dessen Zentrum die Pseudonymenklärung von "Cursor" (d. i. Jan Münzer) steht. Eine dritte Quellen-Arbeit findet sich im Teil I des Bandes, der das "satirische[] Selbstverständnis" behandelt. Peter Hawig skizziert in seinem Offenbach-Beitrag sowohl die Prinzipien der Krausschen Bearbeitung - wobei er sich auf die eigene Editionspraxis stützen kann - als auch die Rezeption wiederum der "Offenbach-Renaissance".

Beiträge, die so kenntnisreich und ergebnisorientiert argumentieren, sind bei den versammelten Vortragstexten leider nicht die Regel. Ein zu großer Teil davon hat den Charakter einer mündlichen Überblicksvorlesung nicht abgelegt, und zu vieles bleibt einem angelsächsischen Criticism oder unbekümmerter Dampfplauderei verhaftet, salopp-schlampigem Ausdruck oder reiner Raterei. Im besten Fall ist man so schlau wie vorher - etwa wenn Allan Janik noch einmal "Wittgensteins Wien" empfiehlt -, im übelsten Fall erhalten wir von Mike Rogers ein buntes Potpourri launig angerissener Editions- und Übersetzungsfragen - in offenbarer Vernachlässigung besserer Beispiele (mindestens der von Christian Wagenknecht besorgten Auswahlausgabe bei Reclam, der 91 Seiten handfester und hilfreicher Stellenkommentar beigegeben sind). Höhepunkt in dieser Richtung ist Christian Jäger, der sich an einer Paraphrase von "Aphorismus" versucht und dabei weder vor einem "Mehr" ("dem man nachspüren muß"), noch dem vordergründigen "Hinterfragen" zurückschreckt. Und wenn auf der einen Seite nicht alles wirklich druckwürdig gewesen ist, so vermisst man andererseits doch schmerzlich zwei der zunächst angekündigten Teilnehmer: Jan Philipp Reemtsma und eben Christian Wagenknecht.

Titelbild

Gilbert J. Carr / Edward Timms (Hg.): Karl Kraus und Die Fackel. Reading Karl Kraus. Aufsätze zur Rezeptionsgeschichte. Essays on the reception of Die Fackel.
Iudicium Verlag, München 2001.
246 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3891290500

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