Geballt auftretende Begrifflichkeiten

Zu Stephan Jaegers Theorie lyrischen Ausdrucks

Von Stefan SchankRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Schank

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stephan Jaeger geht in seiner Arbeit von zwei Voraussetzungen aus: 1. Im achtzehnten Jahrhundert fand eine Verschiebung von einem auf Affekten beruhenden Ausdrucksbegriff zu einem ästhetischen Begriff des Ausdrucks statt. 2. Ebenfalls im achtzehnten Jahrhundert entstand ein Zeichenbegriff, dem zufolge Zeichen keinen referentiellen Bezug nach außen mehr haben, sondern auf nichts als sich selbst verweisen. 3. Durch die neuen Begriffe von Ausdruck und Zeichen geriet das Subjekt fortan in ein Ausdrucksparadox: einerseits begegnete es einem erhöhten Anspruch an Selbstdarstellung; andererseits unterminierte die Selbstbezüglichkeit des sprachlichen Zeichens jegliche authentische Darstellung.

Diese Voraussetzungen bilden die Grundlage für Jaegers These: "Es gibt eine Konstellation in lyrischen Texten, in denen das Ausdrucksparadox nicht zu einem akzeptierenden Umgang mit diesem führt, sondern immer wieder neu ausgetragen werden muss." Das Subjekt versucht, das eigene Bewusstsein aufzulösen, um die Differenz zum Objekt (Welt, Gott und anderem) schließen zu können. Zugleich muss es aber in seiner Krisenhaftigkeit als widerständiger "Schatten des Subjekts" (Jaeger) anwesend bleiben. Daraus entstehen ständig gegenläufige Bewegungen in den Texten. Jaegers Ziel ist es, eine dynamische Texthermeneutik zu entwickeln, mit deren Hilfe sich diese Prozessualität als "unmarkiertes Zwischen" fassen und beschreiben lässt. Im Zentrum seiner Betrachtungen stehen Texte von Brentano, Eichendorff, Trakl und Rilke, dessen "Duineser Elegien" den Übergang zu einem wiederum konstruierten und inszenierten, d. h. "markierten Zwischen" darstellen. Mit den vier genannten Dichtern ist eine Zeitspanne von etwa 130 Jahren abgedeckt. In Exkursen und Ausblicken erweitert Jaeger den Untersuchungszeitraum in die Lyrik des Barock und diejenige der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein.

Jaeger analysiert dichterische Texte von großer Komplexität, und sein Ziel ist hoch gesteckt, auch wenn er es immer wieder einschränkt und betont, er wolle keine allgemeine Lyriktheorie entwickeln, sondern eine definierte Konfliktkonstellation in ihren jeweiligen historischen Ausprägungen untersuchen. Um dies zu leisten, führt er zahlreiche analytische Begriffe und Kategorien ein, die er "Grundbegriffe der Theorie lyrischen Ausdrucks" nennt: "Schatten des Subjekts", das "unmarkierte/markierte Zwischen", die "selbstreflexive Textoberfläche", "Oberflächenlektüre vs. kontextuierende Lektüre", "der sinnlich aufgeschlossene Leser", dazu kommen noch spezifische Definitionen von "Vollführung", "Intensität", "Deixis" und "Bewegung". Es hat angesichts dieses theoretischen Aufwands eine gewisse Berechtigung, wenn Jaeger sich an einer Stelle für die "hier geballt auftretenden Begrifflichkeiten" geradezu entschuldigt. Das eigentliche Problem der Arbeit ist jedoch nicht die Zahl der eingeführten Begriffe, sondern Struktur und Anlage der Untersuchung.

Jaeger stellt zunächst in einem einleitenden, "Theorie lyrischen Ausdrucks" überschriebenen Kapitel eine Reihe von Begriffen vor. Ausführliche Erläuterungen, Diskussionen und Herleitungen dieser Begriffe verteilt er danach auf insgesamt fünf Einschübe, "Theorem I bis V" genannt, die in die Kapitel zu den einzelnen Dichtern eingebettet sind. Da der Verfasser die Begriffe von Anfang an verwendet, sie aber erst später in ihrem Bedeutungshorizont erläutert und im Verlauf der Untersuchung immer wieder modifiziert, werden an zahlreichen Stellen im Fließtext und in den Anmerkungen Verweise auf bereits abgeschlossen geglaubte Interpretationen ebenso notwendig wie vorausdeutende Hinweise auf künftige Entwicklungen. Auf diese Weise summiert sich der Theorieteil der Arbeit auf gut hundert Seiten, wobei die meist ziemlich ausführlichen Literaturreferate zwar die Belesenheit des Verfassers demonstrieren, zum Verständnis seiner Argumentation aber nicht immer beitragen. Strapaziös wird die Lektüre darüber hinaus durch die Neigung des Verfassers, die Forschungsliteratur zu den einzelnen Dichtern nicht an einer einzigen Stelle erschöpfend zu diskutieren und zu bewerten, sondern immer mehrmals darauf zurück zu kommen. Auch hier beeindruckt Jaeger mit seiner Kenntnis auch der jüngsten Forschungsliteratur, er beeinträchtigt durch dieses Verfahren jedoch ohne Not die Stringenz seiner Argumentation. Dies gilt erst recht für den historischen Exkurs zum Subjekt in der Lyrik des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, der nach dem Eichendorff-Kapitel eingefügt wurde und in dem Jaeger erst das achtzehnte, dann das siebzehnte Jahrhundert behandelt, um schließlich die eigentliche Untersuchung mit Trakl fortzusetzen.

Die Schwächen im Aufbau und der Organisation der Arbeit überdecken beinahe die Stärke der Studie. Diese Stärke sind die Interpretationen der Texte, die Jaeger einfühlsam und präzise paraphrasierend erläutert und deren Bewegungen er minutiös nachzeichnet. Dabei führt er - ohne übergroßen theoretischen Ballast - seine Methode der "Oberflächenlektüre" vor. In diesen "Lektüren" wird deutlich, dass Jaeger tatsächlich einen lyrischen Ausdrucksmodus erfasst, der auf Texte aus unterschiedlichen Epochen eine neue Perspektive eröffnen kann.

Die Arbeit ist nicht frei von Fehlern - so übersieht Jaeger in seiner Interpretation der siebten Duineser Elegie den Konjunktiv II in den Zeilen 30 ff., auch die Gleichsetzung von "Liebende" und "Geliebte" ist für den Rilke der "Elegien" unhaltbar - und eine umfassende "Theorie lyrischen Ausdrucks" ist die Untersuchung gewiss nicht. Ihr Wert besteht in der Beschreibung einer spezifischen Konfliktsituation und ihrer Varianten in der lyrischen Rede, im Nachweis der Relevanz dieser Konfliktsituation über eine große Zeitspanne hinweg und in der theoretischen Fundierung und Präsentation einer Methode, den Umgang verschiedener Dichter mit dieser Konfliktsituation zu beschreiben.

Titelbild

Stephan Jaeger: Theorie lyrischen Ausdrucks. Das 'unmarkierte Zwischen' in Gedichten von Brentano, Eichendorff, Trakl und Rilke.
Wilhelm Fink Verlag, München 2001.
384 Seiten, 46,60 EUR.
ISBN-10: 3770536142

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