Mehrgesichtigkeit der Moderne

Über ein Jahrbuch zu Hugo von Hofmannsthal und die europäische Moderne

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was der Leser dieses Jahrbuchs erwarten kann, lässt bereits die Schriftgestaltung des Einbandes erahnen: Der Autorenname in Antiqua-Majuskeln wird unterbrochen von einem fein geschwungenen "f", wie es das 18. und 19. Jahrhundert kannten. Bei genauerer Betrachtung überzeugt man sich auch, dass es sich nicht um das "Hofmannsthal-Jahrbuch" handelt, sondern um "Hofmannsthal" - ein "Jahrbuch. Zur europäischen Moderne", dessen Spannnung zwischen Namensgeber, Gattungsbezeichnung und inhaltlicher Orientierung auf diese Weise in einer produktiven Schwebe bleibt. Feine Unterschiede, die inhaltlich signifikant werden. Hofmannsthal wird in einem nicht nur neo-romantisch konservativen Kontext diskutiert, sondern seine aktive Zeitgenossenschaft zur Entwicklung der klassischen Moderne am Beginn des 20. Jahrhunderts zum editorischen Programm erhoben.

Und in der Tat finden sich mehrere Beiträge in dem Band, die spezielle Züge der ästhetischen und philosophischen Kultur der Jahrhundertwende darstellen, dies aber ohne direkten Bezug zu dem Lyriker, Essayisten, Dramatiker. Sie zeigen dabei eine gewiss nicht zufällige Aktualität, wenn sie die Fragen und Probleme der Entstehung der neuesten Moderne diskutieren und dadurch unbeabsichtigt eine kaum begonnene Gegenwart provozieren. Dies ist der Fall bei einem faktenreich dokumentierten Aufsatz von Stefan Adriopoulos zur lange Zeit in den Hintergrund der Mediendiskussion getretenen frühen Auffassung des Kinos als hypnotischem Phänomen. Auf der Basis sowohl des wissenschaftlich-psychologischen Diskurses über die Hypnose und ihre 'Realität' als auch der filmischen Umsetzung dieser Hypothesen über die Wirkungsmöglichkeiten von Hypnose - etwa in Filmen wie "Das Cabinett des Dr. Caligari"und "Dr. Mabuse, der Spieler" - thematisiert der Autor frühe Reflexionen über die Wirkmächtigkeit der neuen Kunstform. Dass hinter den Debatten ganz andere historische Mächte zum Ausdruck drangen, hat bereits Siegfried Kracauer zu zeigen versucht (Adriopoulos widerspricht ihm, was die historische Blindheit des Hypnosediskurses angeht), ihre Affinität zur Gewalt diskutierte man damals allerdings kaum anders als heute. An einem Kriminalfall - ein 16-jähriger Knecht bringt den 4-jährigen Sohn des Bauern ohne offensichtlichen Grund um - entzündete sich eine Debatte über die Folgen des übermässigen Besuchs des "Kinematographentheaters" durch den Täter: der Untersuchungsrichter hielt ausdrücklich fest, dass ein Wildwestfilm und die Verfilmung des "Däumling" (!) ursächlich zur Tat beigetragen hätten, weil sie auf den Täter "einen derartigen suggestiven Einfluß ausgeübt [haben], daß er, ohne es zu wissen, unter ihrem Einflusse stehend, ohne jedes sonstige Motiv" die Tat begangen habe.

Einem ebenfalls letalen Ausgang, allerdings auf dem Gebiete des Literarischen geht Robert Matthias Erdbeer nach, wenn er akribisch die Suggestionsversuche der Schaufensterdekoration in Robert Müllers Erzählung "Irmelin Rose" auf eine vielfach zu konstatierende Attraktionskultur bezieht. Auch hier ein ausdifferenzierter 'Diskurs', in dem diverse Künste aufeinander reagieren und die Alltagswelt gestalten. Die Heldin bei Müller stirbt als "nervöse Flâneuse" bei einem Straßenbahnunfall, nachdem sie den heimatlichen Garten auf dem Land verlassen hat, um den Attraktionssystemen der Großstadt, insbesondere den Verlockungen der Schaufenster anheimzufallen.

Dass die Schwäche der Protagonisten gegenüber den in alle Bereiche der Lebenswelt hereinbrechenden Geboten der modernen Zeit auch das Schreiben in fundamentaler Weise affizierte, zeigt ein komplexer Aufsatz von Benno Wagner mit dem zunächst merkwürdig erscheinenden Titel "Der Bewerber und der Prätendent. Zur Selektivität der Idee bei Platon und Kafka". Es geht dabei um jenen, Nietzsche zufolge, gefährlichen Zustand, Erbe einer jahrtausendealten Kultur zu sein, ohne deren Sinnangebote realisieren zu können. Auf die politische Ebene bezogen handelt es sich um die bei Platon bereits im Phaedros-Mythos ventilierte Frage, wie der wirkliche Herrscher und der nur scheinbare zu unterscheiden seien. In der Moderne mit ihren Massengesellschaften stellt die Selektion ein entscheidendes Denk-Prinzip dar, ihre 'Wurzellosigkeit' oder Beliebigkeit haben Autoren wie Hans Blüher oder Martin Buber kritisiert - beides Autoren, von denen Wagner annimmt, dass sie von Kafka rezipiert und vor allem im "Schloss"-Fragment und dem Fragment "Forschungen eines Hundes" die nicht eindeutig in einen Sinn aufzulösende Wortmeldungen Kafkas zum Problem der Unmöglichkeit der Wahl prägten. Damit verbunden sieht Wagner auch bei Kafka jene Unterscheidung Blühers der "Primären" (Herrscher, in der durch die Erde legitimierten Sinntradition Stehenden) und "sekundären Massen" (alles durcheinanderwerfend, allenfalls Prätendenten der Macht), die im "Schloss" im Mittelpunkt der Erzählung steht und der Kafka die erwähnte Erzählung als "sabotagetechnisches Gegenstück" hinzugesellt habe. Ein zu verblüffenden Erhellungen der Kafkaschen Denk- und Schreibweise Kafkas beitragender Ansatz!

Weit entfernt von dem aufklärerischen Optimismus anderer Zeitgenossen bewegen sich diese Probleme. Am Beispiel von Karl Wagners Aufsatz zu dem heute weitgehend vergessenen (dennoch in zahlreichen historischen Arbeiten immer wieder erwähnten) Josef Popper-Lynkeus lässt sich der andere Pol der intellektuellen Auseinandersetzung mit der Moderne erkennen: die an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientierte Forderung nach Anpassung der Lebensverhältnisse der Massen an den Stand der technologischen Entwicklung sowie die Propaganda für das willentliche Abwerfen überlieferten geistigen Ballastes und die selbstmächtige Antizipation der Zukunft. Popper stellte im Wien der Jahrhundertwende so etwas wie einen "säkularisierten Heiligen" (Egon Schwarz) dar, eine selten aufscheinende Verbindung von technisch-wissenschaftlicher und philosophischer Genialität und sozialreformerischem Impetus. Er nahm u. a. - von Freud deutlich herausgestellt - dessen Theorie der Traumdeutung bereits in literarischen Erzählungen vorweg. Zu Hofmannsthal scheint allerdings keine Verbindung existiert zu haben.

Zwei Aufsätze widmen sich explizit dem Werk: Markus Fischer weist auf die Bezüge zu Rumänien in der lyrischen Komödie "Arabella" hin und Gerd Indorf analysiert insbesondere auch in ihrer musikologischen Dimension am Beispiel der "Elektra"-Vertonung die oft kritisierte Zusammenarbeit des Autors mit dem Komponisten Richard Strauss, um letzteren neu und zugleich positiver zu bewerten.

Den umfangreichsten Text-Korpus des Bandes nimmt allerdings die Fortsetzung des Abdrucks von Hofmannsthals Briefwechsel mit der Familie Oppenheimer ein. In den Schreiben an die Mitglieder dieser begüterten Familie lassen sich einige der Merkmale jener Zeitgenossenschaft Hofmannsthals bemerken, von der eingangs bereits die Rede war. Es gehören dazu jenseits der literarischen noch die Vorliebe des Schriftstellers für Reisen im Automobil wie auch die aktuelle Einflussnahme auf diplomatisch-politische Kreise. Ein weit- und hochgespanntes Netz von Bekanntschaften in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens lässt erahnen, auf welchem Stand der informierten Anteilnahme an seiner Gegenwart sich Hofmannsthal bewegte. Nicht zu übersehen sind auch in den Briefen die Anzeichen jener vielzitierten Empfindlichkeit und 'Nervosität', an der das Zeitalter leidet. Wie ein Sensor scheinen sowohl der Autor als auch seine Briefpartnerin Yella Oppenheimer jede Veränderung des Luftdrucks wahrzunehmen, kein Aufenthaltsort bei den zahlreichen Reisen in Zentraleuropa, dessen spezifische Wirkung auf den Organismus nicht Gegenstand detaillierter Schilderung im Brief wird. Offen bleibt in dieser Fortsetzung der Briefe, welches ausserordentliche Interesse Hofmannsthal an die Hausherrin des von ihm oft aufgesuchten "Ramgutes" band.

Es bildet sich in diesen Briefen aus vielen Details ein Bild der Persönlichkeit Hofmannsthals heraus, das in der Übereinstimmung mit den widersprüchlichen Tendenzen der Epoche auch diesen sorgfältig und mit Register sowie einer ausführlichen Bibliographie edierten Band insgesamt zu einem wohlkomponierten Dokument der Moderneforschung macht.

Titelbild

Hofmannsthal Jahrbuch. Jahrbuch zur europäischen Moderne Bd. 8/2000.
Herausgegeben im Auftrag der Hugo von Hofmannsthal-Gesellschaft von Gerhard Neumann, Ursula Renner, Günter Schnitzler und Gotthard Wunberg.
Rombach Verlag, Freiburg 2000.
409 Seiten, 65,50 EUR.
ISBN-10: 3793092542

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