Kastrierende Frauen und teuflische Juden

Jacques Le Riders Studie zur Tagebuchliteratur in der Wiener Moderne

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Der Name Lampe muß nun völlig vergessen werden", notierte sich der greise Immanuel Kant in sein Gedächtnisbüchlein, nachdem er seinen langjährigen Diener Martin Lampe wegen verschiedener Unregelmäßigkeiten entlassen hatte. Das mag nach einer gut erfunden Anekdote zur Illustration der verschrobenen Alltagsuntauglichkeit philosophischer eggheads klingen. Die Geschichte ist jedoch belegbar, und bei näherer Betrachtung erscheint Kants Notiz auch nicht mehr ganz so absurd. Hatte doch schon Platon im "Phaidros" - in allerdings kritischer Absicht - bemerkt, die Schreibkunst habe das Gedächtnis zugrunde gerichtet. Hieran sei "etwas Wahres", hatte Kant die Stelle in früheren Jahren kommentiert. Wendet man Platons Verdikt positiv, so könnte der 78-jährige Transzendentalphilosoph die Notiz in seinem Merkbüchlein durchaus mit Bedacht niedergeschrieben haben. Ebenso mag es jedoch auch sein, dass er - wie verschiedentlich gemutmaßt wurde - in den Jahren vor seinem Tode an Alzheimer litt, und es diese Erkrankung war, die zu der obskur anmutenden Gedächtnisstütze führte.

Sicher ist jedoch, dass das Niederschreiben von Erlebtem dazu dienen kann, es zu bewältigen, es ad acta zu legen und dem Vergessen anheim zu geben. Das weiß auch Jacques Le Rider, der mit seinem jüngst erschienenen Buch "Kein Tag ohne Schreiben" an seine frühere Arbeit "Das Ende der Illusion" anschließt. In seinem neuen Werk befasst er sich mit den Auswirkungen der durch die Wiener Moderne initiierten literarischen, künstlerischen und philosophischen Neuerungen auf das Aufleben der Tagebuchkultur. Zu diesen Innovationsschüben zählt nicht zuletzt auch die Begründung der Psychoanalyse. So hat Le Rider weder Platon im Sinn, noch Kant und seinen entlassenen Diener Lampe, sondern Sigmund Freud und dessen "Wunderblock", wenn er an die "Kunst des Vergessens" denkt, die "nicht die leichteste" sei. Das Tagebuch, so Le Rider, könne nicht nur dazu dienen, "die Details meiner Existenz zu konservieren", sondern ebenso, "um tabula rasa zu machen".

In den ersten Kapiteln widmet sich der Autor dem Begriff der europäischen Moderne, die er als "eine Darstellung und Interpretation der kulturellen Krise" definiert, die durch die Modernisierung ausgelöst worden sei, wobei er den Zeitraum speziell der Wiener Moderne 1938 mit dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland enden lässt. "Unter kultur- und literaturgeschichtlichem Aspekt betrachtet" habe die literarische Praxis des Tagebuchs ihren "Adelsbrief" Anfang des 20. Jahrhunderts erworben. In Anlehnung an Pierre Bourdieus Diktum der "autobiographische[n] Illusion" spricht er von der "diaristische[n] Illusion" und vertritt die Hypothese, dass die "Familienähnlichkeit" der Gesamtheit aller intimen und autobiographischen Dokumente auf dem gemeinsamen Gefühl eines "Unbehagens in der Moderne" beruhe und so die von den Autoren verinnerlichte "Kulturkrise" ebenso wie die Krise deren eigener Identität widerspiegelten. Zwei Ängste seien es vor allem gewesen, die die Moderne beherrschten: die vor "kastrierenden Frauen" und die vor "teuflischen Juden" - sexistische und antisemitische Phantasmagorien, die zwar sicherlich weite Kreise beherrschten, aber von den beiden betroffenen Bevölkerungsgruppen wohl kaum geteilt worden sein dürften - sieht man einmal von den pathologischen Ergüssen eines Otto Weininger ab, dessen Antisemitismus wohl nur noch von seiner Misogynität übertroffen wurde. Befremdlich wirkt Le Riders Bemerkung, Weininger habe den jüdischen Selbsthass "übersteigert", gerade so, als sei er in gewissem Maße durchaus angebracht. Nicht minder überrascht, dass Le Rider zufolge die femme fatale keine reine Männerphantasie ist, sondern im Wiener Fin de Siècle in Fleisch und Blut herumzulaufen pflegte - etwa in Gestalt Ea von Aleschs, die eine "Reinkarnation der Lulu" gewesen sei. Sie verkörperte, so Le Rider weiter, "den Typ der emanzipierten Frau der 20er Jahre schlechthin", worunter er versteht, dass sie "schön, groß und schlank" gewesen ist.

Die Autoren, mit denen er sich näher befasst, - Autorinnen kommen eher am Rande vor und werden in einem eigenen nicht allzu umfangreichen Kapitel abgehandelt - sind weder ausnahmslos Wiener noch sind sie alle mit Tagebüchern hervorgetreten. Unter ihnen finden so bekannte Literaten wie Arthur Schnitzler, der von allen "sehr wahrscheinlich der vollkommenste Vertreter der Gattung Tagebuch" sei, oder Hermann Bahr, dessen Tagebücher zwar "weder von literarischem noch von theoretischem Interesse" seien, jedoch eine "unerschöpfliche dokumentarische Goldgrube" für die Kulturgeschichte darstellten. Auch der jahrelange Fackelträger Karl Kraus wurde aufgenommen, der allerdings "kein Tagebuch im herkömmlichen Sinn" sondern mit der "Fackel" ein "Anti-Tagebuch" geschrieben habe.

Offenbar hat Le Rider bei der Auswahl der Tagebuchautoren gelegentlich bestimmten Vorlieben gegenüber einzelnen Autoren nachgegeben. So etwa derjenigen für Weininger, dem Le Rider in den vergangenen Jahren bereits mehrere Untersuchungen gewidmet hat. Nun hat allerdings auch Weininger "kein Tagebuch im eigentlichen Sinn hinterlassen". Ersatzweise wird daher das 1919 veröffentlichte "Taschenbuch" herangezogen, aus dem Le Rider wohl nicht zu Unrecht folgende Stelle als "Schlüssel" zu Weiningers Buch "Geschlecht und Charakter" zitiert: "Der Hass gegen die Frau ist immer nur noch nicht überwundener Hass gegen die eigene Sexualität".

Die umfangreichsten Kapitel sind zwar Stefan Zweig, Robert Musil und Ludwig Wittgenstein gewidmet, den breitesten Raum nimmt jedoch ein Autor ein, der nicht nur ebenso wie Weininger kein Tagebuch verfasst hat, sondern zudem wohl kaum der Wiener Moderne zuzurechnen ist: Friedrich Nietzsche, der nicht nur mit einem eigenen Abschnitt gewürdigt wird, sondern als steter Widergänger in fast allen Kapiteln auftaucht. Le Rider rechtfertigt das mit Nietzsches - sicherlich unbestrittenem - Einfluss auf zahlreiche Künstler des Fin de Siècle. Nicht ganz so überzeugend ist jedoch die Präsentation der nachgelassenen Fragmente Nietzsches als "philosophisches Tagebuch". Allerdings schränkt Le Rider sogleich ein, dass es sich bei Nietzsches Notizen nicht um ein Tagebuch im eigentlichen Sinn gehandelt habe, sondern um tägliche Fingerübungen - die, so ist man versucht hinzuzusetzen, allerdings gelegentlich wirken, als hätte Nietzsche Fäustlinge übergezogen. Bei Le Riders Lesart der Nachlass-Fragmente scheint es sich um eine Hilfskonstruktion zu handeln, um sich mit Nietzsche in der gewünschten Ausführlichkeit auseinander setzen zu können, denn immerhin handele es sich bei Nietzsches nachgelassenen Fragmenten um "die originellsten und fesselndsten Notizbücher des Philosophen der europäischen Moderne." Was Le Rider für bahnbrechende Innovationen Nietzsches hält, vor denen der Autor ehrfurchtsvoll auf die Knie sinkt, erweist sich philosophiegeschichtlich schon mal als etwas älterer Hut, den Nietzsche aus früheren Jahrhunderten entliehen hat. Seine Erklärung etwa, dass Zweifel "sehr am Platz" seien, ob das 'Ich' nicht bloß eine "perspektivische Illusion" sei beziehungsweise eine "Konstruktion des Denkens", eine "regulative Fiktion", in der Le Rider eine der "bemerkenswertesten Einträge im philosophischen Tagebuch" Nietzsches ausmacht, geht nur unwesentlich über Lichtenbergs Bemerkung hinaus, dass man statt cogito lieber sagen solle "Es denkt", so wie man sagt "es blitzt", denn "[d]as Ich anzunehmen" sei ein bloß "praktisches Bedürfnis". Neben Nietzsches nachgelassenen Fragmenten erfährt seine autobiographische Schrift "Ecce homo" das besondere Lob des Autors. Die kleine Schrift sei "eine der brillantesten intellektuellen Autobiographien der gesamten europäischen Literatur". Angesichts dieser überschäumenden Bewunderung überrascht es kaum, dass Le Rider kein Wort über Nietzsches bramarbasierende Selbstbeweihräucherungen verliert. Vielmehr scheint er dessen Megalomanie für durchaus begründet zu halten. Anderen Autoren gegenüber ist er in dieser Hinsicht ungleich weniger nachsichtig. Dass Marie Bashkirtseff in ihren Tagebüchern "gerne den Ton des Genies, das überzeugt ist, einer höheren Menschheit anzugehören" anschlug und mit Naivität ihren Größenwahn ausbreitete, mag zwar sein, trifft aber in größerem Maße auf Nietzsche zu. Auch Le Riders auf Weininger gemünztes Wort vom "manische[n] Delirium" ließe sich mit Fug und Recht auf "Ecce Homo" und noch so manch andere Schrift des Philosophen mit dem Hammer anwenden.

Titelbild

Jacques Le Rider: Kein Tag ohne Schreiben. Tagebuchliteratur der Wiener Moderne.
Übersetzt aus dem Französischen von Eva Werth.
Passagen Verlag, Wien 2001.
382 Seiten, 13,80 EUR.
ISBN-10: 385165496X

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